Altersarmut in Europa
4. Januar 2013Für unzählige Menschen, die in Nordafrika unter bitterer Armut oder unter politischer Verfolgung leiden, ist Europa das gelobte Land. Tausende von ihnen riskieren ihr Leben bei illegalen Überfahrten über das Mittelmeer. Für diese Hilfesuchenden mag es vollkommen abstrakt erscheinen, wenn in Europa zunehmend über die Gefahren von Altersarmut diskutiert wird. Zumal das Verständnis von Armut in einem westeuropäischen Industriestaat und einem afrikanischen Krisenland kaum unterschiedlicher sein könnte.
Tatsächlich aber befindet sich Europa in einer Entwicklung, die zwar sicherlich weit von afrikanischen Verhältnissen entfernt ist, aber bei der Europäischen Union längst die Alarmglocken klingeln lässt. Denn nicht nur die überalterte, ergrauende Gesellschaft als Folge des demographischen Wandels, sondern auch die Eurokrise setzt die Sozialsysteme zunehmend unter Druck. In vielen europäischen Ländern gibt es immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter bei gleichzeitig steigenden Arbeitslosenzahlen. Als Folge davon schrumpfen Renten und Auszahlungen aus der privaten Altersvorsorge.
Gefährdung der Existenz
Nach Berechnungen der EU-Kommission nimmt die Zahl der über 60-Jährigen jährlich um mehr als zwei Millionen zu und ist inzwischen doppelt so hoch wie noch vor zehn Jahren. Bereits heute geben die EU-Regierungen zehn Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Renten aus. Der Anteil wird weiter steigen. Derzeit leben in der EU rund 120 Millionen Rentner, das sind 24 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Noch vor wenigen Jahren wäre das Bild des armen Rentners kaum mit Nationen wie Deutschland oder Großbritannien in Verbindung gebracht worden. Mittlerweile droht vielen Menschen nach dem Ausstieg aus dem Arbeitsleben nicht nur der soziale Absturz, sondern die Gefährdung ihrer Existenz. "Es gibt zwar keine präzisen Daten, weil die Armutserhebungen von den Haushaltsbefragungen der EU abhängen", sagt Michael Dauderstädt von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Aber aufgrund der Struktur der Alterssicherung in den meisten europäischen Ländern muss man vermuten, dass das Risiko steigen wird."
Nach derzeitigem Kenntnisstand hätten Spanien, Portugal und natürlich Griechenland eine relativ hohe Armutsrate im Alter. "Wir reden über Quoten von ungefähr zwischen 20 und 27 Prozent", erläutert Dauderstädt. Man müsse davon ausgehen, dass dieser Trend in Folge der Sparprogramme stärker werde, betont der Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Falle Griechenlands könne er das mit Sicherheit sagen. "Anfang Dezember war ich eine Woche in dem Land anlässlich eines Informations- und Dialogprogramms mit griechischen Wirtschaftspolitikern und Vertretern von Gewerkschaften. Dort sind die Renten massiv gekürzt worden."
Großbritannien als Schlusslicht
Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sind nicht nur die Eurokrisenstaaten von Altersarmut bedroht, sondern auch Großbritannien. Dort sind die staatlichen Rentenleistungen relativ niedrig, so dass der Schwerpunkt auf Zusatzleistungen liegt. Diese beruflichen sowie privaten Absicherungen sind aber gegenüber Kapitalmarktkrisen sowie Fehlentscheidungen von Fondsmanagern extrem anfällig. Hingegen zeichnen sich die Niederlande im zwischenstaatlichen Vergleich durch gute Werte aus.
Deutschland liegt mit einer Armutsquote von fast 15 Prozent in der Gruppe der mehr als 65-Jährigen noch im Mittelfeld. Es schneidet schlechter ab als die Niederlande, jedoch deutlich besser als Dänemark und Großbritannien.
Unter der zunehmenden Altersarmut könnten vor allem Frauen leiden. Die Gleichheit der Geschlechter ist eigentlich einer der wichtigsten Grundsätze der Europäischen Union. Bereits 1957 wurde das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" im Vertrag von Rom gesetzlich verankert, doch der Alltag sieht für viele Frauen anders aus. Die Lohnschere zwischen Mann und Frau klafft trotz aller Gleichstellungsbemühungen noch immer weit auseinander. In der EU erhalten Frauen für die gleiche Arbeit durchschnittlich 17 Prozent weniger Lohn. Sie bekommen damit später eine geringere Rente und laufen Gefahr, im Alter weniger abgesichert zu sein als die Männer.
Einschnitte bei Frauen
"Letztlich hängt es auch davon ab, inwieweit Frauen im Familienverbund von der Rente ihrer Ehemänner profitieren können. Aber das Risiko ist sicher höher", sagt Dauderstädt. Hinzu kommt, dass sich Frauen meist früher als Männer aus dem Berufsleben verabschieden, um sich um die Familie zu kümmern. Frauen nehmen auch einen überproportionalen Anteil der Pflege von Angehörigen auf sich und nehmen dafür häufig Einschnitte in ihrem Berufsleben in Kauf. Das alles wirkt sich auf die Rente aus.
Die EU-Kommission reagierte bereits vor Monaten auf diese problematische Entwicklung. Sie rief das Jahr 2012 zum "Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen" aus. Außerdem schlug sie vor, dass die Menschen in Europa künftig länger arbeiten sollen. Um die Sozialsysteme vor dem Kollaps zu bewahren, sollen Frauen ebenso lange arbeiten wie Männer. Bei der Reform der Rentensysteme müsse jeder Mitgliedsstaat seine eigene Situation berücksichtigen, sagte der EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, László Andor, in Brüssel. Aber es gebe "Prinzipien für die ganze EU". Dazu gehöre, das Rentenalter der Lebenserwartung anzugleichen. "Es ist sehr wichtig, frühzeitig an das Alterseinkommen zu denken, die Beschäftigung zu fördern und dafür zu sorgen, dass immer mehr Menschen für eine längere Zeit ihren Beitrag leisten, um bessere Grundlagen für das Alter zu schaffen."
Europäer wollen länger arbeiten
In der EU gilt Schweden als positives Beispiel. Die Skandinavier koppeln seit mehr als zehn Jahren das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung und haben eine der höchsten Beschäftigungsraten von Arbeitnehmern im Alter zwischen 55 und 64 Jahren.
Die Alterssicherung sei durch die Finanzkrise, die die finanzielle Stabilität untergraben habe, schwieriger geworden, räumt EU-Sozialkommissar Andor ein. "Aber wir können immerhin Maßnahmen zur Wiederherstellung der Stabilität vorschlagen." Mit seinen Vorschlägen kann sich Andor auf eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung stützen. Nach einer Eurobarometer-Umfrage wollen 61 Prozent der Europäer auch im Rentenalter weiter arbeiten - vorausgesetzt, die Bedingungen stimmen.