Alternativer Kunstraum in Köln
1. November 2012Halbnackt wälzt sich ein Tänzer auf dem Boden der Baustelle Kalk. Eine Sängerin beschwört den Tänzer, der mit seinen Gesten die Rolle des schwächeren Geschlechts einnimmt. Die provokative Performance in dem neuen Kölner Kunstraum stammt von der Chilenin Katia Sepulveda. Sie hat sich dem "Transfeminismus" verschrieben, einer Bewegung, die sich für die Emanzipation sexueller Minderheiten einsetzt.
Künstler wie Sepulveda gehören zu einer Subkultur. Man findet ihre Kunst in alternativen, urbanen Räumen. Dazu zählt auch der Kunstraum des Kulturvereins Baustelle Kalk in Köln, den vier junge Frauen gegründet haben: die beiden türkischstämmigen Schwestern Meryem und Fatma Erkus, die deutsch-dänische Raumkünstlerin Janina Warnk und die in der DDR aufgewachsene Kuratorin Nicole Wegner. Ihr Ziel: Mit subkultureller Kunst aller Art soll der industriell geprägte Stadtbezirk Kalk aufblühen.
Junge Kunst in sozialen Brennpunkten
Der Kölner Stadtteil Kalk hat rund 100.000 Einwohner. Dort leben zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund, davon über die Hälfte türkischer Herkunft. Aufgrund der hohen Arbeitslosenquote von etwa 25 Prozent gilt Kalk als sozialer Brennpunkt. Projekte wie die Baustelle Kalk gibt es in einigen deutschen Großstädten. Gerade in sozialen Brennpunkten eröffnen junge Künstler ehrenamtliche Kulturvereine, viele von ihnen haben selbst ausländische Wurzeln. Doch die Baustelle Kalk ist mehr. Sie führt nicht nur internationale Künstler und die Einwohner des Stadtteils zusammen. Weil die Macherinnen Frauen sind, ist auch das Publikum überwiegend weiblich. Das ist selten in Subkulturen.
Do-it-yourself: Kunstraum selbstgemacht
Es ist gerade die Frauenpower, die den Verein der Baustelle Kalk so stark macht. Die vier jungen Frauen geben alles, um Kunst und Kultur für jeden zugänglich zu machen: Sie verlangen keinen Eintritt, arbeiten ehrenamtlich, finanzieren die Miete durch Spenden. Die Baustelle Kalk richtet sich nach dem "Do-it-yourself"-Prinzip, das in der Kulturszene Deutschlands immer mehr an Gewicht gewinnt: Amateure bauen sich selbst kulturelle Nischen und inspirieren ihre Mitmenschen. Aufbrechen. Mitmischen. Verändern. Die junge Kunstszene befindet sich spürbar im Wandel, wie die Vereinsvorsitzende Meryem Erkus im Interview erklärt.
Auch für Nicole Wegner, zweite Vorsitzende des Vereins, ist die Baustelle Kalk ein Stück Identität geworden. Ihre Augen strahlen, wenn Sie von dem Projekt spricht: "Es ist ein wahnsinniges Hobby, aber wir haben dadurch viele neue Freunde gefunden. Alle hier kommen zusammen, um die verrücktesten Künstler zu erleben." Seit der Gründung Anfang des Jahres haben die jungen Frauen ausgefallene Veranstaltungen in ihrem Kunstraum realisiert. So zum Beispiel das "I Don't Hear Nothin' But The Blues Trio" des virtuosen Gitarristen Mick Barr. Der reiste mit seinem Trio zum internationalen Musikfestival in Moers nach Deutschland. Barr, der üblicherweise in alternativen Kunsträumen der New Yorker Jazz-Szene auftritt, war von der Baustelle Kalk begeistert. Aber auch Künstler aus den Balkan-Staaten zog es in das Atelier der vier jungen Frauen. Die Künstler-Gruppe "Balkan Pirates" aus Belgrad, zeigte Dokumentarfilme und initiierte Comic-Workshops in der Baustelle Kalk – und brachte deutsche, türkische und serbische Anwohner zusammen.
Raumkunst mit einfachsten Mitteln
In der Baustelle Kalk tun sich neue Welten auf. Das gilt auch für die Raumgestaltung. Die junge Raumkünstlerin Janina Warnk stellt bei jeder Veranstaltung eine neue Atmosphäre mit einfachsten Mitteln her. So funktionierte sie den Kunstraum zum Wald um, indem sie 7000 Liter zerstückelte Baumrinde in das Atelier hineinschütten ließ. Dazu überredete sie eine Gärtnerei in der Nachbarschaft. Die Betriebswirtschafts-Studentin Fatma Erkus, Schatzmeisterin des Vereins, sprach spontan Nachbarn auf der Straße an, die alte Baumstämme aus ihrem Garten entsorgen wollten – und sie stattdessen in den Kunstraum brachten. Die Anwohner lassen sich immer wieder von dem Elan der vier jungen Frauen inspirieren und freuen sich, Teil des Projekts zu sein.
Subkultur mit Frauenquote
Die vier jungen Frauen geben alles für die Pläne ihres Kulturvereins. Und diese Frauenpower überzeugt auch maskuline Subkulturen: Die Noise-Band "Child Abuse", so berichten die jungen Frauen stolz, habe nach ihrem Konzert in der Baustelle Kalk gesagt: "The best thing about this place is that it's run by girls." ("Das Beste an diesem Kunstraum ist, dass es von Frauen geleitet wird"). Denn das Publikum der schrillen New Yorker Underground-Band, die eine Mischung aus Rock und Zwölftonmusik spielt, ist größtenteils ein männliches. Bei ihrem Auftritt in Köln waren mehr Frauen als Männer anwesend. Die vier jungen Frauen von der Baustelle Kalk haben mit ihren Kunstaktionen mehr erreicht als erwartet. Sie fördern nicht nur internationale Subkulturen. Sie steigern auch deren Frauenquote.