1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Alt werden: Börek gegen Heimweh

Mareike Aden5. Januar 2006

In einem Seniorenheim in Duisburg leben 14 Türken, zwei Niederländer und ein Tunesier. Viele wollten im Alter eigentlich nach Hause zurück. Stattdessen folgt dem Leben in der Fremde auch ein Altern fern der Heimat.

https://p.dw.com/p/7a4S
Im multikulturellen "Haus am Sandberg" findet Perihan Arcak ein Stück HeimatBild: DW

In einer Sitzecke des Seniorenheims "Haus am Sandberg" in Duisburg sitzen türkische Schülerinnen zwischen alten Frauen mit Kopftüchern. Die 92 Jahre alte Perihan Arcak erzählt auf türkisch aus ihrem Leben in Jugoslawien, den USA, der Türkei, Deutschland und Belgien. Sie zeigt Fotos und Überweisungsbelege aus den 1960er Jahren. Die jungen Mädchen lachen über die Anekdoten der alten Frau. Die genießt die Aufmerksamkeit.

Das Altenheim Haus am Sandberg in Duisburg
Gülennur Gürleyen hilft seit Jahren ehrenamtlichBild: DW

In der Küchenzeile neben der Sitzecke kocht die ehrenamtliche Helferin Gülennur Gürleyen weiße Bohnen und Reis – ein traditionell türkisches Gericht. Seit zwei Jahren kommt die Duisburgerin fast täglich in das "Haus am Sandberg". Das Seniorenheim wurde 1997 als erste ausdrücklich multikulturelle Einrichtung dieser Art in Deutschland gegründet. Gülennur Gürleyen will den türkischen Bewohnern des Hauses "ein Stück Heimatgefühl" vermitteln. Zusammen mit anderen ehrenamtlichen Helferinnen organisiert sie deshalb mehrmals im Monat türkisches Frühstück oder Mittagessen: Börek, gefüllte Weinblätter oder Sucuk als Heilmittel gegen Heimweh.

"Schickt mich in die Türkei, bitte!"

"Ich habe kein Heimweh. Ich bin an fremde Länder gewöhnt", ruft die 92-jährige Perihan Arcak in die Runde. Ihr Zimmer, das einem Erinnerungsschrein gleicht, ist ihr neues Zuhause: Unter der türkischen Flagge hängen Fotos von ihrem Mann und von Kemal Atatürk, dem ersten Präsidenten der Türkei. Neben Perihan Arcak sitzt die 75 Jahre alte Vedina Altunok. Sie schweigt. Ab und zu zieht sie ihr Kopftuch gerade.

"Sie ist nach dem Tod ihres Mannes im Mai 2005 hierher gekommen", erzählt Gülennur Gürleyen die Geschichte von Vedina Altunok. "Schickt mich in die Türkei, schickt mich in die Türkei, bitte!", habe sie wochenlang gerufen. Als junge Frau ist Vedina Altunok ihrem Ehemann nach Deutschland gefolgt. Er war einer Gastarbeiter der ersten Generation. Wie so viele Gastarbeiterpaare träumten die Altunoks davon, im Alter in die Heimat zurückzukehren. Der Ehemann starb, der Traum zerbrach.

Mit dem Alter steigt das Heimweh

Haus am Sandberg Multikulturelles Seniorenheim
Der Gebetsraum für Muslime im "Haus am Sandberg".Bild: Haus am Sandberg

"Je älter Menschen sind, desto wichtiger werden ihnen ihre kulturellen Wurzeln", sagt Gülennur Gürleyen. Wenn das Kurzzeitgedächtnis schwindet, bleiben vor allem die Erinnerungen an ganz früher. Deshalb wollen die meisten Ausländer, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, zurück in die Heimat. Doch für viele bleibt das ein Traum: Der Tod des Partners, ein schlechter Gesundheitszustand oder Bedingungen der Pflegekasse verhindern oft die Rückkehr. Da sich auch in den türkischen Familien die Strukturen ändern, gibt es die traditionelle Großfamilie nicht mehr. Immer mehr Migranten der ersten Gastarbeitergeneration leben deshalb in Pflegeheimen. Doch nur wenige Einrichtungen sind so auf die Bedürfnisse der multikulturellen Gäste eingerichtet wie das Duisburger Seniorenheim. Dort gibt es sogar eine Moschee - auch wenn die kaum genutzt wird.

Altenpflegerin
Sozialarbeiterin Bengi Azcan mit ihrer Mutter Sakriye Vardar.Bild: DW

Kurz vor Mittag brechen die Schülerinnen wieder auf. Die Mitarbeiter des "Haus am Sandberg" bringen die anderen türkischen Bewohner an den Esstisch. Es kommen auch Besucher, zum Beispiel die 71 Jahre alte Sukriye Vardar, die viele Jahre als ehrenamtliche Helferin im Seniorenheim gearbeitet hat. "Wenn man alt ist, dann sucht man Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, die gleiche Mentalität haben", sagt Sukirye Vardar.

Geboren wurde sie im ehemaligen Jugoslawien: "Dort war ich 'die Türkin’. In der Türkei 'die Jugoslawin’ und in Deutschland wieder 'die Türkin’. Ich war überall fremd." Deutschland, das Land, in dem sie 38 Jahre gelebt hat, ist jedoch ihre "erste Heimat". Hier leben ihre Kinder und Enkel, hier fühlt sie sich am "wenigsten fremd", hier möchte sie alt werden. Am liebsten jedoch in einem türkischen Seniorenheim. "Da werde ich verstanden."