1 Euro, 38 Cent
1. Oktober 2018Fast bis zur Schulter steckt mein Arm im knallorangen Straßenmülleimer. Ich taste im Innenraum nach einer Colaflasche - aus Weichplastik, das ist wichtig, denn das heißt, sie wird mir später 25 Cent bringen. Jackpot, sozusagen. Ich ziehe die Flasche heraus, stecke sie in die Plastiktüte und gehe schnell weiter, mit gesenktem Kopf, vermeide unbedingt den Augenkontakt mit Passanten. Ihre Blicke spüre ich trotzdem.
Schon die möglichst beiläufigen Inspektionen der Abfalleimer waren unangenehm, klar. Aber dieses Müllgewühle auf offener Straße, das ist… ja, was ist es denn? Peinlich, würdelos, erniedrigend würden die meisten Menschen in Deutschland wohl sagen. Aber für manche hier ist es, ganz einfach, Arbeitsalltag.
Klimpernde Einkaufstrolleys in den Städten
Genaue Zahlen gibt es nicht, aber wer durch eine deutsche Stadt läuft und die Augen offen hält, sieht sie, die Flaschensammler. Im Jahr 2006 trieb die Fußball-WM den Bierdurst in die Höhe, durch eine Änderung am Pfandsystem gab es jetzt noch mehr Pfandflaschen. Seitdem ziehen sie durch die Straßen, mit Einkaufswagen, Plastiktüten, Einkaufstrolley - auf der Suche nach der nächsten Flasche, die sie den Leuten entweder gleich nach dem letzten Schluck abnehmen, vom Gehweg aufheben oder, ja: aus dem Mülleimer ziehen.
Etwa 720 Millionen Einwegpfandflaschen werden laut Schätzungen jedes Jahr nicht zurückgebracht. Bei 25 Cent pro Flasche sind das 180 Millionen Euro. Hinzu kommen noch die Mehrwegflaschen, die acht bzw. 15 Cent bringen. Da ist also ein Markt, um es mal auf Wirtschaftsberaterdeutsch zu sagen, irgendwo müssen die Flaschen ja sein. Man muss sie nur aufheben, im Supermarkt abgeben und dann kommt doch bestimmt was zusammen, oder? Aber wie viel? Lohnt sich das, kann man davon leben? Und wie ist es, auf das angewiesen zu sein, was für andere Leute Müll ist?
Ich suche die Antworten auf einem Streifzug durch Berlin, hier müssen sie ja liegen, irgendwo zwischen den Pfandflaschen. Einen Tag lang bin ich zu Fuß unterwegs, mitten durch die Stadt, vom Nordosten in den Südwesten. Ein lauer Herbsttag, sogar die Sonne scheint ab und zu zwischen den Wolken hindurch. Frische Luft, keine Büroarbeit, herrlich, denke ich, als ich morgens mit leeren Plastiktüten im Rucksack losziehe.
In die Mülleimer gucke ich anfangs noch nicht, die Schamgrenze ist noch viel zu hoch, stattdessen scannt mein Blick beim Gehen den Bürgersteig. An Bäume gelehnt, auf Stromkästen, vor Hauswänden - überall finde ich Flaschen. Aber leider nur Weinflaschen und die sind, tja, pfandfrei.
Klar, schon alles abgegrast von den Profis, jetzt bloß nicht unterkriegen lassen. Und tatsächlich, da, im Gebüsch: eine leere Flasche Desperados, ein Bier mit Tequilageschmack. Wahnsinn, das ist meine, innerlicher Freudentaumel. Bis ich sehe, dass im Flaschenbauch ein Zitronenstückchen liegt und das wohl auch schon etwas länger. Es riecht bierig, säuerlich-verfault, aber zimperlich oder gar wählerisch darf ich heute nicht sein. Ich ziehe das Stück mit spitzem Daumen und Zeigefinger durch den Flaschenhals, schmeiße es weg, schüttele die letzten Tropfen aus der Flasche auf den Gehweg. Die ersten acht Cent wandern in meine Tüte.
Als ich nach deutlich mehr als einer Stunde am Alexanderplatz in Berlins Mitte ankomme, habe ich vier Flaschen zusammen. Ganz schön mühsam. Erstmal einen Kaffee trinken? Meine Aufmerksamkeit bleibt an einem Mann hängen, der bestimmt unbestimmt durchs Bahnhofsgebäude zieht. "Star Wars" steht auf seiner Plastiktragetasche, das obere Ende ist zusammengerollt. Er bleibt kurz vor einem Mülleimer stehen, schaut rein, geht dann weiter. Ich folge ihm. "Entschuldigung, sammeln Sie Flaschen?"
"Zwei Schachteln Zigaretten kommen schon raus"
Ich habe ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt, erzählt mir Björn Kaiser* wenig später, als wir mit Kaffeebechern unterm Fernsehturm sitzen. Wachdienste schmeißen Flaschensammler oft aus den Bahnhöfen, sagt der 58-Jährige, manchmal sind sie auch in Zivil unterwegs.
Er selber sammele zwischen sechs und sieben Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. ABER - und das betont er mehrfach – nur übergangsweise. Demnächst fange er als Taxifahrer an, dann sei das hier vorbei. Eigentlich sei er Elektriker, aber nach 22 Jahren hätte sein Arbeitgeber pleite gemacht. Über befristete Jobs rutschte er in die Arbeitslosigkeit. "Seitdem versuche ich, einfach nur, über die Runden zu kommen." Seine Stimme zittert, als er das sagt.
Mit dem Geld vom Amt komme er aber nicht über die Runden, deswegen die Flaschen. "Zwei Schachteln Zigaretten kommen schon raus", oder, in Geld umgerechnet: etwa 15 Euro pro Tag. Björn trägt saubere Kleidung, neue Turnschuhe, Schnauzbart, kurze graue Haare. Er wirkt gepflegt. Neben mir sitzt keiner, der sich aufgegeben hat, im Gegenteil. Dort sitzt einer, der unbedingt dabei bleiben will. So sehr, dass er dafür anderer Leute Müll sammelt. "Nur rumsitzen, das bringt doch nichts."
Die Aufstocker
"Flaschensammler definieren sich über ihre Arbeit als jemand, der noch arbeitet und der noch dazugehört. Das ist eine Aufwertungsstrategie, die auch oft aufgeht", sagt Dr. Alban Knecht, ein Soziologe, der eine Studie zum Thema Flaschensammler veröffentlicht hat.
Die wenigsten Flaschensammler seien Obdachlose. Viele seien Rentner oder Sozialhilfeempfänger, Leute mit einem gewissen Einkommen, das ihnen aber nicht zum Leben reicht. Mit Pfandflaschen stocken sie es auf.
"Das Pfandsystem an sich ein gutes Ding - aber es ist natürlich kein Ersatz für den Sozialstaat, dass Leute rumlaufen und Flaschen sammeln", sagt Knecht. "Das ist ein Zeichen dafür, dass der Sozialstaat nicht mehr richtig funktioniert und dass die Renten zu niedrig sind." Nur vom Flaschensammeln leben könne man nicht.
Vor allem nicht, wenn man so wenige Flaschen findet wie ich. Als ich Elmar ("Nachnamen brauchen wir nicht") treffe, wird mir klar, was ich falsch mache. Er hängt mit dem Kopf zuerst in Mülleimern, läuft mit blauem Plastikmüllbeutel und Trekkingrucksack von einem zum nächsten, nimmt Dosen direkt von Passanten entgegen. In einer Minute holt er mehr Flaschen als ich in drei Stunden.
Der 46-Jährige sammelt seit mehreren Jahren. Fünfzig Euro mache er an Rekordtagen im Sommer, im Winter deutlich weniger. Er läuft feste Routen ab, die er aber nicht verrät - "Betriebsgeheimnis" - und sammelt auch noch nach seinen Schichten als Aufgangsreiniger oder "Treppenterrier", wie er es nennt. Ist das nicht unangenehm, in aller Öffentlichkeit durch den Müll zu gehen? "Nö. Geld stinkt nicht und Hände kann man waschen", sagt Elmar und grinst.
Das ist es. Das ist der Spirit, ab jetzt auch für mich. Zu zimperlich, zu zurückhaltend, nicht proaktiv genug war ich bisher. Ab jetzt gehe ich auch durch die Mülleimer. Der erste kostet Überwindung. Der zweite auch. Der dritte geht schon einfacher. Und tatsächlich. Vergleichsweise schnell finde ich drei Einwegflaschen, jeweils 25 Cent. Jetzt könnte es richtig losgehen. Doch dann verlässt mich der Mut.
Ziemlich gefährlich, so ganz ohne Handschuhe in die Mülleimer zu greifen, geht es mir durch den Kopf. Spritzen, Scherben, Scheiße - da kann ja alles drin sein und ich fasse da einfach so rein. Ganz schön fahrlässig, ja, nicht auszudenken... Reicht dann auch für heute mit den Mülleimern, beschließe ich, und sammele noch ein paar Flaschen von der Straße.
Meine Füße tun weh. Meine Hände sind dreckig. Ich schiebe die magere Ausbeute in den Pfandrückgabeautomaten, bis die Tüte leer ist. "Summe 1.38" steht auf dem Display. Mehr wird es nicht. Klar, mit Handschuhen hätte ich in noch mehr Mülleimern geguckt und dann wären es jetzt...
Aber eigentlich (und das weiß ich auch) war es nicht die Vernunft, die mich zurückgehalten hat - es war mein Stolz. Denn um Stolz, das ist mir heute klar geworden, geht es beim Flaschensammeln. Viele mögen meinen, für Pfand in Mülleimern zu graben mache Menschen zu Außenseitern. Sie tun es aber, um dazuzugehören. Sie weigern sich, sich von Schicksalsschlägen aus der Gesellschaft boxen zu lassen. Sie geben Stolz auf, um Stolz zu bewahren. Flasche für Flasche.
*Name auf Wunsch geändert