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Afghanistan: Odyssee einer Ortskraft der Bundeswehr

11. November 2022

Im Bundestag schildert ein junger Mann, wie er und seine Familie vor den Taliban auf dramatische Weise fliehen konnten - ein Happy End auf Umwegen.

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Eine Frau hält auf einer Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin ein Plakat mit der Aufforderung "Help Afghans" in die Höhe
Nach der Machtübernahme der Taliban fordern viele Menschen von der Bundesregierung, Afghanen zu helfenBild: John Macdougall/AFP/Getty Images

Die Rache der Taliban musste er jederzeit fürchten, denn Samim Jabari arbeitete in Afghanistan sechs Jahre lang für die Bundeswehr. Von 2015 bis kurz vor dem chaotischen Abzug der internationalen Truppen im August 2021. Der Name des 29-Jährigen kann hier veröffentlicht werden, weil er inzwischen in Deutschland lebt und keine Berührungsängste mit Medien hat - im Gegenteil: Man kann ihm sogar auf Twitter folgen.

"Ich wollte schildern, wie barbarisch die Taliban sind"

Jabari hat Journalismus studiert, erzählt er in seiner Muttersprache Dari als Zeuge im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages. "Ich wollte schildern, wie barbarisch die Taliban sind", übersetzt ein Dolmetscher die Worte der ehemaligen Ortskraft. Deswegen kam ihm das Angebot, für die Bundeswehr Reportagen über die Militär-Mission in seinem Heimatland zu drehen, wie gerufen. 

Oft habe er Kampfhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Armee, aber auch der internationalen Truppen gefilmt, die auf TV-Kanälen in verschiedenen Provinzen des Landes gesendet worden seien. Bis in die Abendstunden berichtet der Vater von zwei kleinen Kindern von seinem gefährlichen Job, dem Alltag in einem von 20 Jahren Krieg geschundenen Land - und seiner gescheiterten Evakuierung.

Warum die Evakuierung scheiterte

Anders als erhofft, wurden er und seine Familie nach dem Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul nicht nach Deutschland ausgeflogen. Anscheinend wurde ihm zum Verhängnis, dass er seit 2016 unter veränderten Bedingungen für die Bundeswehr arbeitete. Demnach hätten er und seine Kollegen neue Verträge unterschreiben müssen. Dadurch seien sie freie Mitarbeiter eines Medienzentrums geworden.

Die Furcht afghanischer Ortskräfte

An ihrer Arbeit habe sich aber nichts geändert, betont Jabari. Nach wie vor hätten Berater der Bundeswehr an den Redaktionssitzungen teilgenommen. Auch das bar ausgezahlte Geld habe man weiterhin von der Bundeswehr bekommen. Trotzdem seien er und seine Familie nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht evakuiert worden. Begründung: Er habe schon länger als zwei Jahre nicht mehr für die Bundeswehr gearbeitet und deshalb keinen Anspruch auf eine Ausreise nach Deutschland als Ortskraft.

"Ich habe an die internationale Gemeinschaft geglaubt"

Samim Jabari muss plötzlich um sein Leben und das seiner Familie bangen - schließlich kennen die Taliban seine TV-Berichte. Man habe ihm oft signalisiert, dass er in Gefahr sei. In den Augen der Islamisten ist er ein Spion und Verräter. Dennoch habe er sich sicher gefühlt: "Ich habe an die internationale Gemeinschaft geglaubt", sagt er im Untersuchungsausschuss. Die Taliban habe er für schwach gehalten. Nicht im Traum habe er sich vorstellen können, "dass sie gewinnen".

Afghanistan Taliban Kämpfer feiern den ersten Jahrestag der Machtübernahme in Kabul mit Fahnen, Transparenten und Gewehren
15. August 2022: triumphierende Taliban in Kabul am ersten Jahrestag der Machtübernahme Bild: Ali Khara/REUTERS

Als dieser Fall dennoch eintritt, befinden sich Jabari und seine Kollegen in akuter Lebensgefahr. Die Situation scheint aussichtslos zu sein. Doch vier Tage nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul trifft eine Nachricht der Bundeswehr bei ihm ein: Er solle sich mit seiner Familie zum Flughafen Kabul begeben. Was sie dort erleben, ist furchtbar: Tausende Menschen versuchen, auf das Gelände zu kommen. Sicherheitskräfte geben Warnschüsse ab und setzen Tränengas ein. Diese Bilder gehen um die Welt. 

Eine neue Nachricht der Bundeswehr

"Warum hast Du uns an diesen schrecklichen Ort gebracht?", habe sein verängstigter Sohn ihn gefragt. Weil keine Möglichkeit besteht, in den Flughafen zu gelangen, kehrt die Familie zurück in das Haus eines Freundes. Dort verstecken sie sich ein paar Tage, bis eine neue Nachricht der Bundeswehr eintrifft: Dieses Mal soll die Familie in einem Bus direkt bis zum Flughafen gefahren werden, heißt es.

Ein US-Soldat mit Helm, schusssicherer Weste und Gewehr reicht einem Afghanen auf dem Flughafen in Kabul die Hand
US-Soldaten versuchen im August 2021 bei der Evakuierung von Afghanen den Überblick zu behalten Bild: Staff Sgt. Victor Mancilla/USMC/UPI Photo/Newscom/picture alliance

Sie seien dann zu einem Checkpoint der Amerikaner gebracht und dort an die Bundeswehr übergeben worden. "In dieser Situation hatte ich das Gefühl, dass wir Afghanistan sicher verlassen können", beschreibt Jabari den Moment der vermeintlichen Rettung. Doch wieder kommt etwas dazwischen: Sein Name stehe nicht auf der Liste, sagt ein Soldat. "Das war schrecklich, ich habe die Welt nicht mehr verstanden", erinnert sich Jabari an diese Szene.

Die Ortskraft blickt in einen Gewehrlauf

Man habe sie zum Außentor des Flughafens zurückgebracht. Sogar ein Gewehr sei auf ihn gerichtet worden, "damit ich nicht zurückkomme". Dabei habe er doch die Nachricht der Bundeswehr bei sich gehabt. Als Samim Jabari als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss darüber spricht, wedelt er mit einem Blatt Papier: "Hier ist die E-Mail, ich habe sie Ihnen vorhin gegeben." 

Dass die verzweifelte Familie doch noch aus Afghanistan rausgekommen ist, verdanke sie vor allem der Organisation Mission Lifeline, sagt Jabari. Mit ihrer Hilfe und einem Asylantrag gelingt es im September 2021 - vorbei an zahlreichen Kontrollpunkten der Taliban - nach Pakistan auszureisen. Die Deutsche Botschaft in Islamabad habe sehr geholfen. "Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken."

"Ihr Leben ist in Gefahr"

Inzwischen lebt die junge Familie in Duisburg im Bundesland Nordrhein-Westfalen. "Aber unsere Gedanken sind immer noch in Afghanistan." Er mache sich Sorgen um Ortskräfte, die immer noch dort seien. Deshalb appelliert Samim Jabari im Untersuchungsausschuss an die Bundesregierung, seinen zurückgelassenen Landsleuten zu helfen: "Ihr Leben ist in Gefahr."

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland