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Musik

50 Jahre Jazz beim Moers Festival

Gaby Reucher
20. Mai 2021

In den 70er-Jahren als Jazzfest gegründet, hat sich das Moers Festival längst zum Mekka experimenteller Musik entwickelt. Überraschungen sind Programm.

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Musiker und grüne Menschen sitzen mit ihren Instrumenten in einer Moerser Unterführung
Proben mit Musikern und "Avataren" für das "Moersland"Bild: Christoph Reichwein/imago Images

"Das kleine Woodstock am Niederrhein" wurde das Moers Festival in den 70er-Jahren genannt und die gewöhnungsbedürftige Musik, die da von der Bühne kam, hieß "Free-Jazz". Mit einem Missverständnis möchte Tim Isfort, der künstlerische Leiter des Festivals, aber gleich aufräumen: "Moers war nie ein reines Jazzfestival", sagt er im Gespräch mit der DW. "Es gab sehr früh Weltmusik in Moers, zum Beispiel traditionelle japanische Shamisen-Gruppen in Trachten, wo sich 2000 Jazzfans in der Halle wunderten und nicht wussten, was das soll".


In den 80er-Jahren hätte dann die deutsche Band "Einstürzende Neubauten" die Leute verschreckt mit experimenteller Geräuschmusik. Und auch die ersten "Turn-Table-Artists", später DJs, waren auf der Bühne ein umstrittenes Novum.

Musiker und grüne Menschen proben mit ihren Instrumenten in einer Unterführung
Proben mit Musikern und "Avataren" für das digitale "Moersland"Bild: Christoph Reichwein/imago Images

Doch genau dafür steht das Festival in der kleinen, knapp über 100.000 Einwohner zählenden Stadt Moers im Ruhrgebiet: für Experimente, Improvisation und Provokation. Ein Festival, das offen ist für neue Klänge anderer Kulturen und auf diese Weise Anhänger auf der ganzen Welt gefunden hat.

Das Moers Festival vernetzt die ganze Welt

Mit Japan verbindet das Moers-Festival eine lange Freundschaft. Die Big Band Shibusashirazu Orchestra war häufig zu Gast. "Hier in Japan ist Moers eines der bekanntesten Musikfestivals Europas", schreibt die Jazz-Journalistin Kazue Yokoi in "(re)visiting Moers Festival", einem Buch voller Fotos und Erinnerungen, das pünktlich zum Festival erscheint.

Tim Isfort in großer Aufführungshalle
Corona hatte das Moers Festival schon 2020 ausgebremst. Tim Isfort hat digitale Programmpunkte deshalb für 2021 frühzeitig eingeplant.Bild: Kristina Zalesskaya

Wegen der Corona-Pandemie muss das Festival wie schon 2020 vor realem Publikum bis auf Ausnahmen ausfallen. Dennoch sind rund 200 Künstlerinnen aus 20 Ländern nach Moers gekommen. Musiker aus Äthiopien, Uganda und dem Kongo konnten nur mit Sondergenehmigungen nach Deutschland einreisen. Die Formation "Fendika" kommt mit diversen Musikstilen und Tänzen aus Addis Abeba. Mit einem der Altväter des Festivals, dem niederländischen Schlagzeuger Han Bennink werden die sechs äthiopischen Musiker auf der Bühne improvisieren.

Übertragen wird das Festival vom 21. bis zum 24. Maivia Live-Stream über den Fernsehsender Arte.

Was damals wichtig war

Wer in die Geschichte des Festivals eintauchen will, kann auch das digital.  Das virtuelle "Moersland" führt durch Konzerte von früher und bietet in surrealen Welten über Avatare Diskussionsräume zum "Kampf um die Zukunft" – so das Motto des Festivals. Die spacig gekleideten "Moerphs" stehen für die moderne Musik, die "Pyrills" mit Blumenstickern auf den Anzügen denken wehmütig an die Hippiezeit zurück, als im Park vor der Schlossruine die Wildcamper ihre Zelte aufschlugen.

Autos auf einer Wiese mit aufgeschlagenen Zelten dazwischen
Zelten gehörte auch in Moers zum Festival dazuBild: Moers Festival

1972 kamen rund 1400 Zuschauer zum ersten Festival in der Ruine des Schlosshofes. "Das Festival stand für Revolte", erzählt Tim Isfort. 20 Jahre nach dem Krieg gab es in Moers noch einen Bürgermeister mit nationalsozialistischer Vergangenheit. "Es ging darum, dass man aufräumen wollte. Der Generationenkonflikt, die Entnazifizierung und das Aufbrechen von Strukturen spielten eine große Rolle bei den 68ern". Der Free Jazz, so sagt Isfort, habe gleichzeitig für die Befreiung aus den alten Strukturen gestanden.

Die Sorge um die Zukunft der Kultur

Heute sind es – insbesondere durch die Corona-Pandemie - andere Probleme, die die Menschen und vor allen Dingen die Künstler beschäftigen. Viele freie Künstler haben aus Existenznöten ihren Beruf bereits aufgegeben. In diesem Jahr ist deshalb die zentrale Frage des Festivals "Welchen Stellenwert hat Kultur in unserer Gesellschaft?", zu der es im Netz eine Diskussionsveranstaltung geben wird. 

Mit dem Thema "Corona" beschäftigten sich auch die diesjährigen "Improviser", die eingeladenen "Künstler in Residenz", der Schlagzeuger Matt Mottel und der Keyboarder Kevin Shea aus New York, allerdings mit einem Augenzwinkern. Seit 14 Jahren lädt Moers jedes Jahr "Künstler in Residenz" ein. 

Das neue Album, dass die beiden Musiker in Moers aufgenommen haben, heißt in Anspielung auf Corona "Antiseptic Release". "Die Hände waschen und 'sauber' bleiben, das ist zur Zeit das Thema", erklärt Matt Mottel im Gespräch mit der DW. Der QR-Code auf einem Tütchen mit einem Desinfektionstuch führt zum neuen Album. Um den QR-Code zu behalten, würde die Verpackung auch nicht weggeschmissen, das sei gleichzeitig ein Beitrag zum Umweltschutz meinen die Musiker optimistisch.

Moers bleibt gesellschaftspolitisch

Moers war von Anfang an ein politisches Festival. Themen wie Umweltschutz, Inklusion oder Rassismus begleiten die Veranstalter über viele Jahre. "Rassismus war immer ein Thema, gerade als Festival, dass sich mit afroamerikanischer Musik, also Jazz, auseinandergesetzt und identifiziert hat", erzählt Tim Isfort. "Das Festival hatte zum Beispiel damit zu kämpfen, dass in Moers in den 70er-Jahren noch Anthony Braxton mit seinem Quartett vor dem Hotel stand und der Hotelier sagte: 'Ja, die drei Weißen nehme ich, den da nicht'."

50 Jahre Moers Festival - Maria Portugal
Die brasilianische Jazz- und Improvisationsmusikerin Maria Portugal, eine der wenigen Frauen in der Szene. Sie war 2020 Improviser in Residenz in Moers.Bild: Kurt Rade

Tim Isfort möchte nicht nur in der Musik, sondern auch bei politischen Themen avantgardistisch bleiben. Etwa wenn es um den Anteil weiblicher Musikerinnen beim Festival geht. "Das ist wirklich ein Problem. Wir müssen uns sehr anstrengen, um überhaupt auf 30 Prozent zu kommen", sagt Isfort. Es sei schwierig in Bereichen der experimentellen Musik, Free-Jazz, Noise-Music und Elektronik. "Wir kriegen 90 bis 95 Prozent 'alte weiße Männer' auf den Tisch - ich darf das sagen - und im Zweifelsfall geben wir bei zwei gleichwertigen Programmpunkten den Vorzug einer mehrheitlich weiblich besetzten Gruppe." Denn auch in dieser Frage, so Isfort, soll das Festival eine impulsgebende Vorbildfunktion für andere haben.