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300 Jahre Einwanderung

Kathrin Erdmann6. August 2012

In Bremerhaven steht das erste Migrationsmuseum Europas. Im Deutschen Auswandererhaus geht es nun auch um Einwanderung nach Deutschland. Hier werden die Lebensgeschichten von 15 Einwanderern erzählt.

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Um nicht zu verhungern, musste der italienische Eismacher Silvio Olivier manchmal auch Haare schneiden
Migrationsmuseum in BremerhavenBild: DW

Darüber hätten sich die Gastarbeiter sicher gefreut: "Willkommen in Deutschland" heißt es auf einer großen weißen Tafel. Sie markiert im Deutschen Auswandererhaus (DAH) in Bremerhaven den neuen Übergang von der Ausstellung über die Auswanderung zur Einwanderung. Ende April 2012 wurde der Neubau eröffnet.

Die "Einwanderung" beginnt hier in den 1970er Jahren mit einem Kiosk, wie es ihn heute vor allem noch im Rheinland gibt. "Gastarbeiter-Anwerbung wird ab sofort gestoppt", ist hier zu lesen. Alle Zeitungen am Kiosk titeln ähnlich. Es ist der 24. November 1973. Einen Tag zuvor hat die Bundesregierung beschlossen, keine neuen Gastarbeiter mehr nach Deutschland zu lassen. Nur noch Kinder und Familienangehörige können relativ problemlos nachziehen. Die Ausstellung beginnt also mit einem Wendepunkt der deutschen Zuwanderungspolitik. Zuvor hatte es seit den 1960er Jahren Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Ländern wie Spanien, Italien, Griechenland oder der Türkei gegeben. Sie regelten einen leichteren Zuzug nach Deutschland - das Wirtschaftswunder brauchte Gastarbeiter.

Das Auswandererhaus in Bremerhaven ist jezt ein Migrationsmuseum
Das Auswandererhaus in Bremerhaven ist jetzt ein MigrationsmuseumBild: Deutsches Auswandererhaus/Werner Huthmacher

Vom Kiosk führt der Weg nach links mitten in eine typische Ladenpassage im original 1970er Jahre-Look. Direkt vor einem Fenster ist die orangefarbene Gardine halb zugezogen, auf einer Karte steht in roten Lettern "Preistafel" und "täglich frische Sahne". Italienische Cassata kostet 80 Pfennig, eine kleine Portion Eis 30 Pfennig. Es ist das Geschäft des italienischen Eismachers Silvio Olivier. Wie viele andere Italiener in seiner Branche stammt er aus den Dolomiten.

Von Italien über die DDR nach Wolfsburg

Schon Anfang des 19. Jahrhunderts machte sich die Familie quer durch Europa auf, reiste mit dem Eiskarren nach Süddeutschland. Dort kam Silvio 1907 zur Welt. Als junger Mann wanderte er zunächst ins Elsass aus. Er wollte dort von seinem Onkel das Eismacherhandwerk lernen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien ließ sich der junge Italiener 1936 in Werdau in Sachsen nieder. Er eröffnete seine erste Eisdiele.

Die Jahre in der DDR - seit Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland in die demokratische Bundesrepublik und die sozialistische DDR geteilt - waren nicht immer einfach für den Italiener, der inzwischen eine Familie gegründet hatte. Doch er wusste sich zu helfen, erzählt Ilka Seer, Mitarbeiterin im Deutschen Auswandererhaus: "Immer wenn die Rohstoffe für das Eis fehlten, griff Silvio zu Schere und Messer und verdingte sich als Frisör." 1953 floh Familie Olivier über Berlin nach Westdeutschland - über Frankfurt am Main nach Wolfsburg. Eine Ausreise aus der DDR in den Westen war verboten. Dort betreiben Silvios Nachfahren noch heute einen Eisladen.

Besucher auf Spurensuche

Die Erinnerungsstücke der Einwanderer liegen im Migrationsmuseum in Bremerhaven nicht aufgereiht in einem Glaskasten, sondern der Besucher entdeckt sie quasi im Vorbeigehen. So liegen die Haarschneide-Utensilien von Silvio Olivier in einem originalgetreuen Frisörsalon der 1970er Jahre. Sein Reisepass befindet sich im Antiquariat, ein Fotoalbum mit zahlreichen historischen Bildern liegt im Agfa-Fotoshop, Eisbecher und Schürze sind im Kaufhaus zu haben.

So wird erst auf den zweiten Blick deutlich, wo und wie Einwanderer ihre Spuren in der deutschen Gesellschaft hinterlassen haben. Längst gehört vieles selbstverständlich dazu, so wie bei Lebensmitteln italienische Pasta, Pizza und türkischer Döner.

Penne-Nudeln auf einem Teller
Deutschland ohne Pasta? UndenkbarBild: www.effilee.de

In einem Schaufenster hängt eine Jeans. Sie gehört zu der vietnamesischen DDR-Vertragsarbeiterin Mai Phuong Kollath: Eigentlich wollte sie in einem Hotel arbeiten, landete aber in einer Großkantine, weiß Seer. "Das Geld war knapp und deshalb nähte sie nach Feierabend Westjeans", erzählt Seer vom Auswandererhaus. Nicht nur sie selbst fand die todschick. Auch bei Freunden und Bekannten fanden Kollaths nachgemachte Jeans wie aus Westdeutschland, die es im Original in der DDR nicht gab, reißenden Absatz, weiß Seer.

300 Jahre Einwanderungsgeschichte

Anhand von 15 Porträts erzählt die neue Dauerausstellung in Bremerhaven, wie Einwanderer ihr Leben in Deutschland gemeistert haben. Den Anfang macht der Hugenotte Philippé Connor im Jahr 1710, das Ende die serbischen Bürgerkriegsflüchtlinge Gordana und Zoran Nikolic. Nicht alle hatten und haben das Gefühl, Willkommen zu sein, sagt Museumsdirektorin Simone Eick. Die meisten Vorurteile nähmen Türken wahr. Vor allem die Übergriffe auf Migranten in Deutschland Anfang der 1990er Jahre, bei denen sogar Menschen verbrannten, könnten sie nicht vergessen. Überrascht habe sie jedoch die Geschichte der Serben, so Eick. Und weiß ein Beispiel: "Eine Familie wurde so nett von den Nachbarn aufgenommen, dass sie nun dauerhaft hierbleiben möchte und sich auch die Kinder in Deutschland sehr gut integriert haben."

Neben den verschiedenen Porträts, die an Hörstationen des Museums erzählt werden, gibt die Ausstellung auch einen Überblick über die einzelnen Stationen von Einwanderung. Im Untergeschoss stehen den Besuchern dafür alte Telefonkabinen bereit.

Eine Frage der Perspektive

Nach rund einer Stunde hat man viel erfahren über die Lebenswirklichkeiten von Einwanderern - und weil der Rundgang bei den Auswanderern und deren Erfahrungen in der Fremde beginnt, fügt sich schließlich alles zusammen. Die Frage, wer wo Ein- und wo Auswanderer ist, ist plötzlich nicht mehr so einfach zu beantworten. Direktorin Simone Eick will mit der Dauerausstellung über Einwanderung nach Deutschland den Blick für ein Thema schärfen, das aus ihrer Sicht immer noch zu wenig von der deutschen Öffentlichkeit beachtet werde.