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100 Jahre "Sacre du Printemps"

Peter Zimmermann28. Mai 2013

Unglaublicher Lärm erfüllte am 29. Mai 1913 das Pariser Théâtre des Champs-Elysées: Mit Ohrfeigen und Beleidigungen reagierte das Publikum auf die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett "Le Sacre du Printemps".

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Strawinsky, "Sacre du Printemps" (Foto: picture-alliance/akg-image)
Strawinsky, "Sacre du Printemps"Bild: picture-alliance/akg-images

Igor Strawinsky hatte mit seinen Auftragswerken für die "Ballets Russes“ große Publikumserfolge. Doch die Uraufführung von "Le Sacre du Printemps", am 29. Mai 1913, eskalierte in Paris zum größten Skandal der Musikgeschichte.

Gerne zeigte man sich im Théâtre du Champs-Elysées: Die Damen, "très chique“ in edler Abendgarderobe, ihre Herren in Frack und Zylinder. Doch man war vorgewarnt: Der Impressario der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, hatte die gesammelte Pariser Presse am Vortag zur Generalprobe eingeladen. Er war Avantgardist, stets bereit Neuland zu betreten. Die besten Komponisten der Zeit schrieben für ihn, allen voran Igor Strawinsky.

Der russische Ballettimpressario Sergej Diaghilew (Foto: picture-alliance/dpa)
Sergej DiaghilewBild: picture-alliance/ dpa

Es war Ungeheuerliches zu erwarten, wurde schon im Vorfeld gemunkelt. Und der skandalträchtige Tänzer Vaslaw Nijinskij als Choreograf schürte die Erwartungen. Provokationen waren in der Zeit zwar nichts Ungewöhnliches. Doch das Recht auf ungestörten, gepflegten Kunstgenuss wollte sich das Pariser Publikum auf keinen Fall nehmen lassen, brachte Trillerpfeifen und eine kämpferische Grundhaltung zur Premiere mit.

Tanz- Massaker

"Le Sacre du Printemps" – das Frühlingsopfer – hieß Strawinskys bevorstehendes Werk. "Als ich in Petersburg die letzten Seiten des Feuervogels niederschrieb, überkam mich die Vision einer großen heidnischen Feier", hatte der Komponist die Handlung erläutert: "Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Frühlingsgott gnädig zu stimmen. Das war das Thema."

Igor Strawinsky (Foto: picture-alliance/akg-images)
Igor StrawinskyBild: picture-alliance/akg-images

Schon zu Beginn der Premiere stand Strawinsky von seinem Platz auf – und ging: "Ich habe den Zuschauerraum verlassen, als bei den ersten Takten des Vorspiels sogleich Gelächter und spöttische Zurufe erschallten. Ich war empört. Die Kundgebungen, am Anfang noch vereinzelt, wurden bald allgemein. Sie riefen Gegenkundgebungen hervor, und so entstand sehr schnell ein fürchterlicher Lärm!"

Rhythmus-Orgie

Heidnischer Urkult, blutiger Ritualmord: Mit der Darstellung eines Frühlingsritus im vorchristlichen Russland hatte Strawinsky einen Gewaltakt auf die Bühne geholt. Und die Musik setzte das Geschehen mit ungekannter Brutalität um. Sie war tonal und melodisch nicht mehr fassbar, sondern betonte vor allem den Rhythmus. – Ein halbstündiges Werk für riesengroßes Orchester mit einer solchen Rhythmus-Orgie musste das Publikum jener Zeit vor den Kopf stoßen.

Die schroffe Motorik der Musik trieb die nackten Tänzer auf der Bühne in ihren heidnischen Riten: Keine klassischen Tanzschritte, kein liebevoller Pas de deux, stattdessen hektische, ekstatisch zuckende Körper – von Lust und Aggression beherrscht.

Tänzer Vaslaw Nijinsky, der Choreograf der Uraufführung Foto: picture-alliance/dpa)
Tänzer Vaslaw Nijinsky, der Choreograf der UraufführungBild: picture-alliance/dpa

Strawinsky hatten großräumige Gruppenbewegungen vorgeschwebt, die das Archaische, Unpersönliche des Geschehens betonen sollten. Nijinsky aber stand auf einem Stuhl in der Seitenbühne und brüllte - gegen die lautstarken Tumulte im Parkett - seinen Tänzern Kommandos für hochkomplizierte Schrittfolgen zu.

"Genau das, was ich gewollt habe!", kommentierte Sergej Diaghilew den Skandal des Abends. Denn schließlich bedeutete ein Skandal nicht Misserfolg, sondern Publicity – und damit Erfolg. Die einen Kritiker beklagten die Intoleranz des Publikums gegenüber der zeitgenössischen Kunst. Die anderen führten "das gesunde Volksempfinden" ins Feld, das sich gegen den "Moloch der kakophonen modernen Musik zur Wehr setzt." Am Ende stand neues Geld von Mäzenen.

Das Tor zur musikalischen Zukunft

Der Schriftsteller, Regisseur und Maler Jean Cocteau kam als Augenzeuge zu dem Schluss, dass nicht der Musik die Schuld für den Aufruhr zu geben war. Schuld sei jener Teil des Publikums, der nur um der Sensation willen die Vorstellung besucht hatte. "Dilettanten und Preziöse glaubten damals", so Jean Cocteau, "mit der Mode gehen zu müssen. Dabei kam eine Klasse ans Licht, die angesiedelt war zwischen dem schlichten, braven Geschmack, der zu ihr passte, und den neuen Gesetzestafeln, die außerhalb ihrer Reichweite lagen: ein Provinzialismus schlimmer als in der Provinz, und das im Herzen von Paris."

Wie eine Bombe schlug Strawinskys "Sacre" am 29. Mai 1913 in Paris ein - als Befreiungsschlag: Alles wurde möglich. Mit einem Ruck wurde das Tor zur musikalischen Zukunft weit aufgerissen. Die Tumulte der Uraufführung blieben eine einmalige Angelegenheit. Sie machten Strawinsky berühmter. Die choreografische Umsetzbarkeit des Balletts blieb eine Herausforderung. Doch schon ein Jahr nach der Uraufführung trat das Bravourstück für brillante Orchester und Dirigenten seinen bis heute andauernden Siegeszug an – in den Konzertsälen.

"Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky, Paris 1913 (Foto: ullstein bild/Roger-Viollet)
"Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky, Paris 1913Bild: ullstein bild/Roger-Viollet