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Überversorgung in der Medizin kann schaden

Angela Klingmüller
18. Oktober 2021

Für überflüssige Untersuchungen, OPs und andere Eingriffe gibt es viele Gründe – nicht nur Vergütungssysteme. Wir sollten ruhig mutiger sein, auf Leistungen auch mal zu verzichten.

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DW-Moderator und Arzt Carsten Lekutat bei einer Augenuntersuchung
Wenn bei einer Augenuntersuchung etwas gefunden wird, muss nicht immer gleich operiert werden. Bild: DW

Eine junge Frau benötigt ein neues Brillenrezept und geht zum Augenarzt.  Dieser führt eine apparative Gesichtsfeldmessung durch –  eine für diesen Zweck nicht notwendige Untersuchung. Hier stellt er eine minimale Sehstörung fest - die Patientin hat diese noch nie bemerkt. Der Arzt veranlasst eine MRT-Aufnahme ih­res Schädels.

In der Aufnahme zeigt sich eine unklare Verdickung des Sehnervs. Die Patientin wird operiert, um eine Probe zu entnehmen. Während der OP kommt es jedoch zu einer Hirnblutung. Die OP muss abgebrochen werden. Die ehemals gesunde junge Frau trägt eine Halbseitenlähmung davon - Die Verdickung am Sehnerv entpuppt sich im Nachhinein als unproblematisch.

Warum es zu Fällen wie diesem kommt - das beschäftigt unter anderem Martin Scherer Professor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf,  Allgemeinmediziner und Experte für medizinische Überversorgung.

Überversorgung - das mag zunächst paradox klingen. Überversorgung ist ein "Zu viel" an Diagnostik und Therapie – wenn diese nicht helfen, von den Patientinnen und Patienten nicht gewünscht sind, oder aber sogar schaden können.

"Viel hilft viel" - das gilt in der Medizin nicht immer. Denn: "Jede Diagnostik und jede Therapie kann prinzipiell schädlich sein", sagt Scherer. Oft gibt es Zufallsfunde, wie Auffälligkeiten im Labor oder Röntgenbild, die unbemerkt gar keine Auswirkungen hätten. Einmal entdeckt, können sie Gesunde zu Kranken machen. 

Protatakrebsfrüherkennung: Nicht alle Tumoren müssen behandelt werden

So auch bei der Prostatakrebsfrüherkennung: Vielen Männern wird das Prostataspezifische Antigen (PSA)  im Blut bestimmt - ein Marker, der beim Prostatakrebs erhöht ist. Sollten also alle Männer so oft wie möglich ihr PSA bestimmen, um dem Krebs keine Chance zu geben?

So einfach ist es nicht. Prostatakrebs ist eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung, keine Frage. Manchmal wächst er jedoch sehr sehr langsam - so langsam, dass er dem Körper gar nicht erst gefährlich wird. Auch diese harmlosen Formen werden durch den PSA-Test entdeckt - lange bevor sich Symptome bemerkbar machen würden.

Probleme mit der Prostata

Das Problem ist: Die Therapie des Prostatakrebses selber kann riskant sein. Nicht selten sind Erektionsstörungen und Inkontinenz die Folge der Operation. 

In Zahlen sieht das so aus: Von 10.000 Männern können durch regelmäßige PSA-Tests 12 Todesfälle durch Prostatakrebs verhindert werden. Bei 340 Männern hingegen werden durch den Test die harmlosen Formen entdeckt – und mit den entsprechenden Nebenwirkungen behandelt.

Da die Vorteile des Tests nicht überwiegen, bleibt Männern die Entscheidung selbst überlassen – und die Kosten müssen selbst getragen werden.

Spitzenreiter Deutschland in der Überversorgung

Es gibt viele Beispiele aus der Medizin, wo die Behandlung über das Ziel hinauszuschießen scheint. Antibiotika,  die bei Entzündungen des Rachenraumes zu oft verschrieben werden - und gegen deren Erreger, in den allermeisten Fällen Viren, nicht wirken. Oder eine dramatische Zunahme von Wirbelsäulen-OPs bei Rückenbeschwerden, die oftmals auch ohne OP behandelt werden könnten. Und viele weitere. 

Und das ist kein kleines Problem: Überversorgung verschlingt schätzungsweise rund 20 % der Gesundheitsausgaben in den OECD-Staaten. Deutschland ist dabei vorne mit dabei. Hier sind die Gesundheitsausgaben rund 40 % höher als in im Durchschnitt der EU-Staaten. Mit diesen Geldern ließen sich viele sinnvolle Ausgaben machen. 

Das Vergütungssystem verlockt zu Untersuchungen

Eine Ursache für Überversorgung ist die Vergütung. Im deutschen Gesundheitssystem wird Aktionismus vergütet. "Niemand wird für ausführliche Beratungsgespräche bezahlt", sagt Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Eine OP durchzuführen, sei beispielsweise immer lukrativer, als sie nicht durchzuführen.

Eine Umfrage unter deutschen Chefärztinnen und -ärzten bestätigt dies: 40 % sehen höhe Fallzahlen in ihren Kliniken durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begründet. 

Sorge vor Klagen und Unsicherheit

Nicht nur finanzielle Anreize sind das Problem. In Umfragen bestätigen viele Ärztinnen und Ärzte, dass sie aus Angst vor Behandlungsfehlern  zu viele Untersuchungen durchführen. Zudem haben sie Sorge, wegen der Unterlassung von Leistungen juristisch belangt zu werden. Oftmals spielt auch Unwissenheit eine Rolle – selbst erfahrene Behandlerinnen und Behandler sind sich oft der juristischer Fallstricke ihres Handels nur unzureichend bewusst. 

Überversorgung ist eigentlich sogar im hippokratischen Eid enthalten, indem die Grundlagen des ethischen ärztlichen Handelns formuliert sind. Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden, heißt es hier. Nach einer medizinischen Diagnose genau zu bewerten, ob das Handeln am ende mehr schadet als das nicht-Handeln ist indes keineswegs immer klar.    

Weniger ist mehr: Eine zurückhaltende Mentalität hilft weiter

Scherer fordert eine Kultur des "Less is more" in der Medizin. Dabei sind auch die Ärztinnen und Ärzte gefragt, Mut zum nicht-Handeln zu beweisen. Das kann aufwendig sein und Geduld und Zeit kosten.

Auch Patientinnen und Patienten können dazu beitragen, dass weniger Überversorgung stattfindet. Nach dem Motto "Ich habe meine Beiträge gezahlt, ich verdiene eine ordentliche Behandlung" seien sie es oft, sagt Scherer, die eine Erwartungshaltung ins Arztgespräch mitbrächten. Ohne eine Spritze oder eine Tablette fühlten sich viele nicht ernsthaft behandelt.

In seinen Augen muss auf allen Kanälen ein Sinneswandel stattfinden. Um diesen bei den Ärztinnen und Ärzten zu fördern, gibt es internationale Initiativen. Die "choosing wisely"-Initiative  beispielsweise möchte bei Ärztinnen und Ärzten ein Bewusstsein dafür schaffen, was in der medizinischen Behandlung von Patientinnen und Patienten nötig ist - und worauf je nach Situation verzichtet werden kann.

In Deutschland geben Leitlinien (z.B. "Klug entscheiden") den Ärztinnen und Ärzten Hilfestellung.  Diese fordern außerdem: Eine adäquate Vergütung ärztlicher Beratungsgespräche. So könnte in Zukunft vermieden werden, dass unnötige Untersuchungen aus finanziellen Anreizen durchgeführt werden.