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Neues Stück von "Rimini Protokoll"

Heike Mund17. September 2016

Ungewöhnlich für ein Theaterstück: Die Beteiligten sind Darsteller und Zuschauer zugleich. "Rimini Protokoll" schickt ausgewählte Tischgäste spielerisch auf die Reise durch die Geschichte Europas. Ein Erlebnisbericht.

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Ein Hand zeichnet Orte auf eine Europakarte ein Foto: Heike Mund /DW
Bild: DW/H. Mund

Es dauert eine Weile, bis das Stimmengewirr nachlässt und die Gäste sich rund um den langen Wohnzimmertisch in der gemütlichen Bonner Altbauwohnung einen Platz gesucht haben. Das Gastgeberpaar kannte die Theaterarbeit von "Rimini Protokoll" schon und hatte sich spontan für das Projekt beworben. Beide sind gespannt, wie alles ablaufen wird. Der selbstgebackene Kuchen ist Teil der externen Regieanweisungen der Künstler und steht schon backfertig auf dem Tisch bereit.

Vor uns liegen eine weiße Papiertischdecke mit einer skizzierten Europakarte und kleine leere Namensschildchen, auf denen wir unseren Vornamen eintragen. Die 15 Teilnehmer an diesem sonntäglichen "Hausbesuch Europa" sind ein wenig aufgeregt, keiner weiß so genau, was passieren wird. Aber die Spannung löst sich, als Spielleiterin Hanna, freundlich und souverän, die ersten Regieanweisungen gibt.

Ein batterieähnliches Gerät steht neben einem Nagel mit aufgespießten Bons Foto: Heike Mund /DW
Kreative Hörspielmacher: Der "Herzschrittmacher" taktet mit Geräuschen die Spielrunde beim "Hausbesuch Europa"Bild: DW/H. Mund

Jeder soll drei Orte aus seiner persönlichen Biografie auf der Karte markieren, die ihm ein Stück Heimat bedeuten und diese dann miteinander verbinden. Nach kurzem Nachdenken fuhrwerken mehrere Gäste mit ihren Armen wild über den Tisch hinweg und ziehen verschiedenfarbige Verbindungslinien zwischen den gewählten Orten. Rom ist schon dreimal als Punkt markiert, Orte in Finnland, Griechenland, Südfrankreich sind auch dabei. Ganz außen, am östlichen Rand von Europa, fehlt Armenien. Lilith, eine junge Frau Anfang 20, fügt es schnell mit einem Stift der Landkarte hinzu und setzt einen "Heimatpunkt" auf die Hauptstadt Eriwan.

Wieviel Europa verträgt der Mensch?

Ein Gewirr von virtuosen Kreuzungs- und Verbindungslinien hat sich auf der Papierdecke abgezeichnet. Ein kleiner, zusammengebastelter Kasten auf dem Tisch gibt auf einmal Laut. "Das ist der Herzschrittmacher des Spiels, unser Brain", erläutert Spielleiterin Hanna das elektronische Bauteil. "Wenn Ihr auf den grünen Knopf drückt, kommt ein Bon mit einer Spielanleitung für den nächsten Schritt raus." Alle lachen, als ein Teilnehmer sagt: "Das ist wie an der Kasse im Supermarkt, dann musst Du sofort bezahlen."

"Bei Alarm muss das Kästchen sofort an den nächsten Spieler weitergegeben werden", fährt Hanna fort. Der erste Bon wird ratternd ausgespuckt. "Wir befinden uns auf Level 1. 1952 wird die Montanunion gegründet", liest eine Teilnehmerin vor. "Frage an die Gastgeber: Wie lange wohnt Ihr schon hier? Und warum?" Auf dem nächsten Bon steht:" Schiebe den Kuchen in den Ofen."

Kuchen wird angeschnitten für die Gäste von "Hausbesuch Europa" auf dem Bonner Beethovenfest. Foto: Heike Mund /DW
Selbstgebackener Kuchen für die Gäste von "Hausbesuch Europa" ist Teil der künstlerischen KonzeptionBild: DW/H. Mund

Was ist Europa für uns, das ist hier die Frage: eine geographische Grenze, eine kulturelle Identität oder nur ein Staatenbund? Das Künstlerkollektiv "Rimini Protokoll" bringt an diesem Esstisch spielerisch die großen europäischen Visionen mit unserer gelebten Realität zusammen. "Zeit, Fragen zu stellen" kündigten sie ihr Projekt an. Wir kommen bei jeder Frage ins Nachdenken. "Wer hat eine Arbeit, von der er leben kann? Der steht bitte auf." Nur einer bleibt sitzen, ein junger Schauspieler.

Wer hat Angst vor der Zukunft?

Der sonnige Nachmittag vergeht wie im Fluge. Die Fragen sind klug formuliert, die Antworten spannend und aufschlussreich für uns alle. Das Private ist auf verblüffende Weise sehr politisch, das Politische hat oft eine persönliche Komponente, merken wir bei den Antworten. "Wir sind Europa, wir sind das Volk", wirft jemand ein. "Wer hat schon mal einen Konflikt mit Gewalt ausgetragen?", lautet die nächste Frage. Einige zögern, nur einer traut sich. Später wird er die Geschichte dazu erzählen.

Jetzt geht's an sensible Bereiche: "Wer hat schon mal seine Nationalität in einer Situation geleugnet?" Spontan heben sich mehrere Hände, drei Geschichten werden erzählt. Fast jeder hat sie ansatzweise auch schon Mal so erlebt, stellt sich später im angeregten Tischgespräch raus. "Wer arbeitet regelmäßig außerhalb seines Landes?"

Altmodische Metallspieße auf dem Tisch laden zum Aufbewahren der kleinen Zettelbons ein. Das Herzstück piepst und faucht Alarm. "Glückwunsch, wir haben Level 2 erreicht", liest die Gastgeberin vor. "Wer war einmal Klassensprecher?" Beeindruckend: Mehr als dreiviertel der Anwesenden stehen auf. Die Spielleiterin notiert das in ihr Computertablet.

Ruhrtriennale: Theater auf Rädern von "Rimini Protokoll". Foto: DW/V. Weitz
Theater auf Rädern: Für die Ruhrtriennale schickte das Theaterkollektiv die Zuschauer quer durchs RuhrgebietBild: DW/V. Weitz

Wieviel Geld hast du dabei?

"Hausbesuch Europa" ("Home Visit Europe") ist eine unterhaltsame, performative Aufführung, "die sich im Handgepäck transportieren lässt", beschreibt das Autorenkollektiv Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel die Grundidee. Interessierte Gastgeber können sich auf der Homepage bewerben, die Adresse bleibt geheim und wird erst 24 Stunden vorher per SMS oder E-Mail verraten.

Seit dem Jahr 2000 treten Haug, Kaegi und Wetzel unter dem Label "Rimini Protokoll" mit wechselnden Formationen und Aufführungsideen an, um das klassische Bühnentheater umzukrempeln. Ihnen geht es um neue, ungewohnte Sichtweisen, auch auf Altbekanntes. Sie nahmen sich "Karl Marx. Das Kapital. Band 1" vor, oder "Hitler. Mein Kampf" und ließen Laiendarsteller in ihren echten Berufsrollen ein Gedankenstück zusammensetzen. "Denkanstöße" sind ihre Spezialität, kaum jemand verlässt ein Stück von Rimini Protokoll, ohne nicht neue, ungewohnte Sichtweisen mit nach Hause zu nehmen.

Zwei Schauspieler auf der Bühne in Weimar. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)
Provokantes Dokumentartheater: "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2" löste in Weimar heftige Diskussionen ausBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Auch die fünfzehn Gäste in Bonn tauschen sich angeregt aus. Der Kuchen im Backofen verströmt unwiderstehlich leckeren Schoko-Zimt-Duft. "Wer organisiert sich in einem Verein oder in einer NGO? Wenn ja, in welcher?" Viele Hände heben sich, eine gesellschaftspolitisch engagierte Runde: Ein ehrenamtlicher Trainer gegen Rassimus und Mobbing ist dabei, eine andere Teilnehmerin organisiert seit Jahren ein Kulturfestival in einem kleinen bulgarischen Dorf. Das Netzwerken geht los: freundliche Zusagen, Kontaktdaten schwirren über den Tisch. Das Konzept von Rimini Protokoll geht voll auf.

Wen findest Du vertrauenswürdig?

Auf einmal verschwindet der Gastgeber, ohne ein Wort zu verlieren, unterm Tisch. Die Aufklärung löst große Heiterkeit aus: Socken und Schuhwerk sollte er beurteilen und jemand auswählen. Lilith aus Armenien erzählt, die weiteste Wanderung in ihrem Leben sei vom Bahnhof Telgte nach Münster gewesen. Alle lachen, das ist gerade mal eine halbe Stunde Fußweg…

Wir haben endlich Level 4 erreicht. Der Kuchen kommt ofenwarm auf den Tisch, Kaffee steht auf dem Sideboard bereit. Anflüge von Konkurrenzkampf der Teams am Tisch wurden souverän gemeistert. Laut Spielanleitung sollte das Team mit den meisten Punkten das größte Stück Kuchen bekommen. Wir teilen ihn gerecht in gleichgroße Stücke – und genießen den friedlichen Sommerabend. Wir, das ist ein kleines Stück Europa, mitten in der Bonner Südstadt.