1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gaza nach dem Abzug

Constantin Schreiber und Hebatallah Hafez Ismail15. Oktober 2005

Vor kaum drei Monaten zogen die Israelis aus dem Gaza-Streifen ab. Seitdem herrscht in den Straßen Gewalt und Chaos, vor kurzem wurde Gaza von den Israelis bombardiert. Constantin Schreiber berichtet.

https://p.dw.com/p/7IbO
Gewalt und Chaos in Gaza nach dem israelischen Abzug: gerät die Situation außer Kontrolle?Bild: AP

"Turn around!" schreit eine Stimme aus dem Lautsprecher. "Take off your jacket!" Das Echo klingt aus jeder Ecke der Halle. Es ist dunkel, Scheinwerfer strahlen auf mich herab. Ich stehe alleine in einer Halle, groß wie ein Flugzeughanger, aber menschenleer. Eisenstangen bilden enge Reihen von einem Ende der Halle zur anderen, durch die ich durchgehen muss. Dazu schallt die anonyme Stimme aus dem Lautsprecher. Schließlich brüllt sie "Have a nice day!" Ich darf gehen.

Gaza Grenzübergang Erez
Kontrollen am Grenzübergang ErezBild: dpa

Erez ist einer der Grenzübergänge zwischen Gaza und Israel. Früher pendelten mehrere zehntausend Palästinenser jeden Morgen von Gaza in die israelischen Städte, um dort zu arbeiten. Daher die überdimensionierte Anlage, mit langen Betongängen und Eisengattern. Aber heute, Jahre seit dem Beginn der zweiten Intifada, dürfen fast keine Palästinenser mehr über Erez ausreisen. Ich bin alleine hier.

Leben im Müll

Gaza Stadt
Straße nach Gaza-StadtBild: dpa

Sobald man in Gaza ist, befindet man sich in einer anderen Welt. Tel Aviv, die moderne Metropole mit ihrem aufregenden Nachtleben und ihren gebräunten Einwohnern am Strand, ist etwas über eine Stunde Autofahrt entfernt. Aber in Gaza sieht man Menschen, die buchstäblich im Müll leben, in Wellblechhütten, die sich auf Unrat erheben. Eselkarren auf den Straßen halten die Autos auf. Gaza Stadt ist ein Meer kleiner geduckter Häuser, mit engen Straßen dazwischen.

Es ist Mittag und die Kinder kommen gerade aus der Schule. Es sind Tausende, die aus den Gebäuden auf die Straße strömen, alle in einer blauen Schuluniform. Es ist kein Durchkommen mehr. Wohin man schaut bewegen sich Wogen kleiner blauer Wesen mit schwarzem Haarschopf, übertönt von lautem Gebrüll. Gaza hat die höchste Geburtenrate der Welt. Manche sagen mehr als 4 Prozent, andere reden von "nur" 3,5 Prozent - jedes Jahr. Und kaum irgendwo leben so viele Menschen so dicht gedrängt auf einem kleinen Streifen Erde.

Im Flüchtlingslager von Dayr al-Balah

Gazastreifen - Flüchtlingslager
Radikalisierung in den Flüchtlinsglagern: ein Kämpfer der al-Aqsa Brigaden streift durch die ElendsviertelBild: dpa

"Die Zukunft? Nur Gott allein weiß, was in der Zukunft passieren wird. Vielleicht wird es irgendwann mal ein Palästina geben. Ein Palästina, das Industrie und Wirtschaft hat. Wir warten auf Gottes Rettung." Mai Khalil lebt im Flüchtlingslager von Dayr al-Balah, südlich von Gaza-Stadt, fast direkt am paradiesischen Strand, der ganz Gaza zum Meer hin begrenzt. Sie ist eine gutaussehende Frau, deren Alter schwer zu schätzen ist. Vielleicht ist sie Mitte zwanzig. Sie hat bronzene, gepflegte Haut, hellbraune Augen und schwarze Haarsträhnen, die unter ihrem Kopftuch hervorwehen. Mais Erscheinung passt nicht hierher.

"Wir haben 4 Zimmer. In jedem Zimmer gibt es etwa vier bis sechs Personen. Stellen Sie sich das vor! Das ist einfach eng! Im Winter ist es auch sehr kalt hier. Es zieht fürchterlich. Wir, die Erwachsenen, können es nicht aushalten. Wie sollen dann die Kinder so was überstehen?"

20 Personen leben insgesamt hier, sagt Mai: sie, ihr Mann, ihre acht Kinder und Onkel und Tante und deren Kinder. Mai lebt in einer Art Hof, über dem ein löchriges Plastikdach gespannt ist. Der Boden ist aus Beton, aber fast überall bedeckt von einer feinen Sandschicht, die immer wieder vom Meer hereingeweht wird. In der Ecke steht eine Kochvorrichtung. Von dem Hof gehen die Zimmer ab. Es sind nahezu unmöblierte Kammern, auf deren Boden dünne Matratzen liegen. Kinder kommen herein, vielleicht sind es 15, sie betteln. "Seitdem die Juden weg sind, sind wir sehr glücklich, Wir hoffen auch, dass die Gefangenen freigelassen werden," sagt Mai. Aber optimistisch ist sie nicht, auch nicht, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder geht. "Wir wollen eine richtige Wirtschaft, eine Entwicklung sehen. Die Kinder sollen in die Schulen gehen und etwas Vernünftiges lernen.“

40 Prozent der 1,5 Millionen Menschen in Gaza sollen in einem der Flüchtlingslager leben, so wird geschätzt. Es ist elende Behausungen. Nur die Moscheen stechen aus den grauen Fassaden hervor und sind gepflegt und verziert. Und überall die Massen von Kindern.

"Oh Jerusalem"

Jüdische Siedlung in Gaza - Wüste
Häuser einer ehemaligen jüdischen Siedlung in GazaBild: AP

Direkt hinter Dayr al-Balah liegen weite grüne Felder. Auf einer Anhöhe erkennt man aus der Ferne eine Ansammlung von Gebäuden. Das ist die ehemalige israelische Siedlung Qatif. Heute ist Qatif eine Ruinenstadt. Alles hier ist zerstört. Die Häuser der Siedler - abgerissen. Die Gemeinschaftseinrichtungen - abgebrannt. Die Straßen - aufgerissen. Ein paar Palästinenser treiben sich hier rum und stochern mit einem Stock in dem Unrat herum. Ein bisschen weiter kniet sich eine Gruppe palästinensischer Soldaten zum Nachmittagsgebet nieder. Ein Junge rennt auf der staubigen Hauptstraße zwischen Qatif und Dayr al-Balah auf und ab. Der zehnjährige trägt ein schmutziges blaues T-Shirt, auf dem der Tempelberg von Jerusalem dargestellt ist. Darüber steht auf Arabisch der Schriftzug "Oh Jerusalem, du gehörst zu Palästina."