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Angst vor Ennahda

28. Oktober 2011

Tunesien hat gewählt, und die offiziellen Wahlergebnisse untermauern den Sieg der lange verbotenen islamistischen Ennahda-Bewegung. Müssen die Säkularen jetzt Angst vor einem Gottesstaat haben?

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Anhängerinnen der Ennahda jubeln (Foto: ap)
Anhängerinnen der Ennahda jubeln: Ihre Partei bekam 41 Prozent der StimmenBild: picture-alliance/dpa

Bereits vor der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses hatten sie sich zum Wahlsieger erklärt: die Islamisten von der Ennahda-Partei. Laut offiziellem Wahlergebnis erhielt die Partei 90 der 217 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung. Hinzu kommen die Sitze der unabhängigen Islamisten. Rachid Ghannouchi, der Vorsitzende der Ennahda, zeigt sich zufrieden. Der arabische Frühling lebe wieder, sagt er. "Nicht in einem destruktiven Sinne, um einen Diktator zu stürzen. Sondern konstruktiv, in dem wir ein neues demokratisches System aufbauen."

Die Wahlen sind nicht nur ein Sieg für die Ennahda, sondern auch für die Demokratie: Sie verliefen ohne größere Probleme. Sie waren gut organisiert. Sie waren frei und fair, wie internationale Beobachter bestätigen. Fast 90 Prozent der 4,1 Millionen registrierten Wähler haben ihre Stimme abgegeben, so der Chef der EU-Wahlbeobachter Michael Gahler im Gespräch mit DW-WORLD.DE. Es sei ein freudiges Ereignis gewesen. Viele Tunesier hätten überhaupt das erste Mal gewählt, da sie sich nie an den Scheinwahlen unter Ex-Diktator Ben Ali beteiligt hätten. "Das war ein guter Tag für Tunesien", so Gahler.

Keine Kontakte zum alten Regime

Rachid Ghannouchi vor der tunesischen Flagge (Foto: DPA)
Rachid Ghannouchi hat im britischen Exil gelebtBild: picture alliance/abaca

Tunesien ist das Ursprungsland des arabischen Frühlings. Vielen Menschen - auch im Westen - sind die Bilder der jubelnden Demonstranten, als Ben Ali das Land verließ, noch gut im Gedächtnis. Und jetzt, neun Monate später, wählt eben jenes Land, eine islamistische Partei an die Spitze? Der Wahlausgang zu Gunsten von Ennahda kam dennoch nicht überraschend. Nach 23 Jahren Polizeistaat, Repression und Korruption suchen viele Tunesier nach Sicherheit und Moral – und genau dies konnte die Ennahda während des Wahlkampfes am besten vermitteln. Sie ist in die ländlichen Regionen gegangen, hat viele dort abgeholt, wo sie stehen, und sie finanziell unterstützt.

Die Partei war unter Ben Ali jahrelang verboten, ihre Anhänger saßen im Gefängnis oder lebten im Exil. So wie Ennahda-Chef Ghannouchi selbst. Bei Ennahda wisse man eben, dass man keine Vertreter des alten Regimes bekomme, sagt Elisabeth Braune, die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. Das gebe ihnen zumindest den Anschein, dass sie nicht komplett verdorben seien von dem ohnehin schon diskreditierten politischen System Tunesiens.

Wird Tunesien trotz demokratischer Wahlen jetzt ein theokratischer Staat? Wohl eher nicht, sagen viele Experten. Zum einen hat eine sehr große Zahl der Bürger, vielleicht sogar die Mehrheit, Parteien gewählt, die nicht religiös geprägt sind, sondern säkular. Zum anderen hat Ghannouchi immer wieder zugesichert, dass die Ennahda in wesentlichen Fragen einen liberalen Kurs fahren will. So hat er sich gegen die Einführung eines Alkoholverbots oder eines Kopftuchzwangs für Frauen ausgesprochen. Ghannouchi vergleicht die Positionen von Ennahda gerne mit denen der AKP, der moderaten Islamisten des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Viele Wähler haben sich für die Ennahda entschieden, weil sie ihnen als glaubwürdig erscheinen, so Braune. Und viele Wähler haben sich für sie entschieden, weil sie das Gefühl hatten, sich zwischen Laizismus und Religion entscheiden zu müssen.

Ein Café auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis (Foto: K. El Kaoutit)
Auf der Avenue Habib Bourguiba flanieren die Frauen meist ohne KopftuchBild: DW

Moderat islamistisch oder konservativ?

Zu Zeiten von Staatsgründer Habib Bourguiba hat Religion kaum eine Rolle gespielt. Das Kopftuch fand er "abscheulich" und er war in vielen Fällen ein Gegner muslimischer religiöser Traditionen. Bourguiba führte Tunesien autokratisch, und unter Ben Ali wurde das Land endgültig zu einer Diktatur. Eine Diktatur mit westlichem Anstrich, denn Frauen waren gleichberechtigt und der Schleier verboten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Tunesien ist ein gespaltenes Land – die tunesische Elite auf der einen Seite, die konservativen Tunesier auf der anderen. Das haben diese Wahlen auch wieder bewiesen. "Da gibt es die moderne, säkulare Elite an der Küste, und es gibt eben die Menschen im Landesinneren, die deutlich anders gewählt haben. Das wollen aber viele Tunesier, die an den Küsten leben, nicht wahr haben", sagt Elisabeth Braune. Dabei müsse man sich genau damit beschäftigen. Und einige liberale Parteien haben das bei dieser Wahl versäumt.

Die Islamisten von Ennahda haben den Tunesiern einen Aufschwung ihrer stark angeschlagenen Wirtschaft versprochen, dazu gehört auch der Tourismus. Das Land kann es sich nicht leisten, auf Touristen zu verzichten, und schon gar nicht, sie zu vergraulen. Dennoch - Ennahda ist eine große Bewegung und darin gibt es auch Strömungen, die konservativer sind als die jetzige Führung. Und es gibt Hinweise darauf, dass es eine radikalere Basis gibt, die nach oben drängt, sagt Braune. Man müsse allerdings erst einmal schauen, wie sich das in den kommenden Monaten entwickele und welche langfristige Agenda die Partei verfolge.

Nicht im Alleingang

Ennahda wird aber nicht alleine entscheiden können. Insgesamt sind für die neu gewählte verfassunggebende Versammlung 217 Sitze zu vergeben. Sie soll die Übergangsregierung bestimmen, ein Grundgesetz ausarbeiten und den Weg zu regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr ebnen. Ennahda wird sich Bündnispartner aus den Reihen der säkularen Parteien suchen müssen, denn eine Mehrheit der Tunesier hat die Partei eben nicht gewählt. Erste Gespräche hat Ennahda bereits geführt, und Parteien wie die sozialdemokratische "Ettakatol" haben bereits durchblicken lassen, dass sie sich ein Bündnis vorstellen könnten. Ennahdas Partner, so Braune, werden bei der institutionellen Ausgestaltung der Spielregeln außerdem sehr stark darauf drängen, Sicherheitsmechanismen einzubauen, damit Ennahda nicht einfach im Durchmarsch ihr Programm durchsetzen könne.

Zudem hat sich die Partei bei ihrer Zulassung dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu wahren. Sollten sie dagegen verstoßen, müsse es eine rechtliche Handhabe geben, so Braune. "Dafür haben die Menschen hier auch keine Revolution gemacht, damit ein autoritäres Regime das andere ersetzt." Sollte es doch so kommen, dann, so Braune, werde im Zweifelsfall die Macht der Straße wieder ins Spiel kommen. Doch danach sieht es momentan nicht aus. Und wenn die Tunesier ihr demokratisch erzieltes Wahlergebnis akzeptieren, dann sollte auch die internationale Gemeinschaft auf dieser Grundlage mit Tunesien weiter arbeiten, um die Demokratie zu festigen.

Autorin: Diana Hodali
Redaktion: Thomas Latschan