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Ungarn: Hochspannung vor den Wahlen

2. April 2002

– Premier Orban und Herausforderer Medgyessy liegen eng beieinander - Am siebten April vierter Urnengang seit der Wende

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Köln, 2.4.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, PRAGER ZEITUNG

Budapest, 2.4.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch, Pal Papp

Am kommenden Sonntag (7.4.) finden in Ungarn die vielleicht spannendsten Wahlen seit der Wende statt. Bis zum letzten Moment scheint alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hinzudeuten. Im folgenden geben wir Ihnen einen Überblick über die wichtigsten Spielregeln des ungarischen Wahlsystems, das als eines der kompliziertesten in Europa gilt.

Das ungarische Parlament zählt 386 Abgeordnete. Davon gelangen 176 aus den einzelnen Wahlbezirken per Direktmandat ins Parlament, 152 sollen von den 20 territorialen Listen (19 Komitate plus Budapest) gewählt werden. Die auf die einzelnen Kandidaten und die territorialen Listen abgegebenen Stimmen, sofern sie kein Mandat ergeben, werden auf Landesebene addiert und ergeben nach einem komplizierten Schlüsselsystem mindestens 58 so genannte Kompensationsmandate auf Basis der Landeslisten der Parteien. Das Wahlrecht ist allgemein, gleich und geheim.

Die alle vier Jahre fälligen Parlamentswahlen wurden vom Staatspräsidenten Ferenc Madl diesmal für den 7. und den 21. April ausgeschrieben. Damit ließ Madl die Tradition der beiden vorangegangenen Wahlen außer acht, die erst im Mai stattfanden. Politische Gegner warfen dem Präsidenten aus dem konservativen Lager, der in der Antall-Regierung nach 1990 das Amt eines Ministers ohne Geschäftsbereich inne hatte und 1995 auch schon als Kandidat der Konservativen für das Amt des Präsidenten nominiert wurde, daraufhin Befangenheit vor. Plausibles Argument für ihre ablehnende Haltung: Wahlen direkt nach dem Osterfest würden die Stimmbereitschaft für die konservativen Kandidaten stärken, während die Termine nach den Feierlichkeiten zum 1. Mai eher für das linke Lager günstig seien.

Jeder wahlberechtigte Bürger hat im ersten Durchgang zwei Stimmen, eine für den/die Kandidat/in des betroffenen Wahlbezirkes, die andere für eine Parteiliste. Der erste Wahlgang ist nur dann gültig, wenn daran mindestens die Hälfte der zur Wahl berechtigten Bürger teilgenommen hat. Erfolgreich - dass heißt, ein Mandat aus dem betroffenen Wahlkreis ergebend - ist derselbe Wahldurchgang, wenn mindestens 50 Prozent plus eins aller abgegebenen Stimmen zu Gunsten von einem der Kandidaten ausfallen. Wenn das der Fall ist, erübrigt sich der zweite Wahldurchgang. Dieses recht selten vorkommende Phänomen bleibt bei ausgewogenen Kräfteverhältnissen unter den Parteien und den Kandidaten meist aus. So ist der zweite Durchgang fast die Regel.

War die erste Runde - mangels unzureichender Wahlbeteiligung - ungültig, dürfen im zweiten Durchgang alle früheren Kandidaten und auch die Parteilisten aufs Neue antreten. Falls der erste Durchgang zwar gültig war, aber nicht erfolgreich, dann kommen nur die drei stärksten Kandidaten in die zweite Runde weiter. Dafür ist allerdings Voraussetzung, dass sie zuvor mindestens je 15 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten. Im weiteren Prozedere des zweiten Wahlganges reicht dann für einen Sieger unter diesen drei verbliebenen Kandidaten bereits die relative Mehrheit aus, vorausgesetzt, dass die Schwelle von mindestens 25 Prozent der abgegebenen Stimmen überschritten wurde.

Bei der Auswertung der Listen kommt das Verhältniswahlrecht zum Tragen. Die auf Gebietslisten erreichbaren 152 Mandate werden je nach Anzahl der Stimmberechtigten im betroffenen Gebiet bereits im Vorfeld diesen Listen zugeordnet. Anschließend werden sie im Ergebnis der Wahlen, auf Basis der zur Gewinnung eines Mandats erforderlichen Stimmenmenge verteilt. Sind von einer Gebietsliste beispielsweise 7 Mandate zu holen, dann sind für ein Mandat etwa 14,3 Prozent der auf die Parteilisten abgegebenen Stimmen notwendig. Ist auf diese Weise eine Vergabe sämtlicher Mandate nicht möglich, so werden die nicht besetzten der Landes-Kompensationsliste zugeordnet.

Die Reststimmen, aus denen weder im Wahlbezirk noch auf der Parteiliste ein Mandat hervorging, ergeben in einem ähnlichen Verfahren mindestens 58 von der Landes-Kompensationsliste zu vergebende Mandate.

Das System bevorzugt eindeutig die starken Parteien und die jeweiligen Sieger. Die Listen beginnen erst zu greifen, wenn die betroffene Partei auf Landesebene mindestens 5 Prozent aller abgegebenen Stimmen erreichte. Zur funktionsfähigen Gebietsliste braucht die jeweilige Partei aber von vornherein in einem Viertel der zugehörigen Wahlkreise, aber mindestens in zwei Wahlkreisen Kandidaten, die von den Wählern mit mindestens 750 so genannten Klopfzetteln unterstützt und damit zu offiziellen Kandidaten qualifiziert werden. Zur gültigen Landesliste sind wiederum mindestens sieben Gebietslisten erforderlich.

Die Starken werden vom System reichlich belohnt; denn 1990 kam die damals stärkste Partei, das MDF schon mit 25 Prozent der Stimmen auf 42 Prozent der Mandate und damit auf eine relative Mehrheit, während die MSZP 1994 mit 33 Prozent auf 54 Prozent der Mandate kam und damit die absolute Mehrheit im Parlament erreichte.

1998 erhielt wieder die MSZP die meisten Stimmen, doch die neuen Koalitionsparteien Fidesz, MDF und Kleinbauern überholten sie in der Summe und bilden seitdem die bis zum Zusammentreten des neuen Parlaments amtierende Regierung. (ykk)

PRAGER ZEITUNG, deutsch, 28.3.2002

In Ungarn wird eine Woche nach Ostern gewählt. Erst der Zweite Wahlgang am 21. April wird über die endgültige Zusammensetzung des Parlamentes in Budapest entscheiden. Die Meinungsumfragen versprechen ein spannendes Rennen zwischen der regierenden Koalition von Fidesz-MDF und der oppositionellen MSZP, jedoch dürfte es für beide nicht zu einer absoluten Mehrheit reichen. Unter den kleineren Parteien, die sämtlich darum kämpfen, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, werden Koalitionspartner gesucht werden müssen.

Ungarische Burgerpartei

Der Fidesz (eine Anspielung auf das lateinische Wort "fides" für Treue) entstand 1988 als Vereinigung junger Intellektueller, insbesondere Juristen. Die meisten entstammten der ersten Generation von Intellektuellen aus Dörfern und kleinen Städten. Sie wandten sich entschieden gegen das System und setzten sich für eine parlamentarische Demokratie und die nationale Unabhängigkeit von der Sowjetunion ein. Sie waren jedoch nicht Teil der so genannten demokratischen Opposition, sondern beriefen sich auf die formell demokratischen Gesetze des Landes.

Nach bescheidenen Wahlergebnissen 1990 (knapp 9 Prozent) und 1994 (7 Prozent) erfolgte die Transformation der Partei. Sie wurde anstelle des zerfallenen MDF die Sammelpartei der mitterechts-konservativen Kräfte. Die bis dato liberalen jungen Politiker wandten sich nationalen Anliegen, insbesondere der Sache der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern und der christlichen Religion zu. Diese Taktik, dazu der jugendliche Elan, moderne Methoden der politischen Werbung und besonders die charismatischen Eigenschaften Orbans führten 1998 zu einem überraschenden Wahlsieg. Fidesz bildete zusammen mit der FKGP eine Koalitionsregierung.

In der Regierung gelang die weitere Integration der national-konservativ-christlichen Kräfte, der Fidesz wurde in die Europäische Volkspartei aufgenommen. Während in der Außenpolitik nationalistische Züge zu erkennen sind, bleibt die Partei den Prinzipien der NATO und der europäischen Integration verbunden.

Postsozialisten

Die MSZP wird allgemein als die Nachfolgerin der einstigen Staatspartei betrachtet, deren Führer aktiv an der friedlichen Übergabe der Macht mitgearbeitet haben. 30.000 bis 40.000 Mitglieder blieben nach der Neugründung 1989. Die MSZP deklariert sich als eine sozialdemokratische Partei, die auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft und des Pluralismus steht. Ihr überraschender Wahlsieg 1994 wurde der allgemeinen Enttäuschung über die Bürden der Wendezeit angerechnet. Die MSZP hat nach 1994 junge Kräfte eingesetzt, während auch viele alte, nunmehr auch in der Privatwirtschaft stark gewordene Interessengruppen aus früheren Zeiten aktiv wurden. Als Regierungspartei verfolgte sie ab 1995 eine konsequent monetaristische, die sozialen Aufgaben zwangsweise bewusst in den Hintergrund drängende Politik, wodurch es - mit großen Opfern auf Seiten der Bevölkerung - gelang, die Staatsfinanzen zu stabilisieren und die Wirtschaft anzukurbeln. Diese Politik kostete die Sozialisten 1998 jedoch den Wahlsieg.

Nach Personaldebatten wurde der frühere Finanzminister Peter Medgyessy Spitzenkandidat. In der Wahlkampagne der MSZP wird eine "soziale Wende" versprochen, die Hilfe für die Verlierer und die Schwachen sowie Unterstützung der Landwirtschaft stehen im Mittelpunkt. Die MSZP versteht sich als mittelinke Sammelpartei, die der Marktwirtschaft sowie der militärischen und wirtschaftlichen Integration in die westlichen Strukturen verpflichtet ist.

Der SZDSZ (Bund freier Demokraten) war in den 80er Jahren die demokratische Opposition junger Intellektueller. Nach der umstrittenen Koalition mit der MSZP 1994 verließen viele Mitglieder die Partei. Als kleiner Koalitionspartner wurde der SZDSZ in eine recht untergeordnete Rolle gedrängt. Nach 20 Prozent Stimmanteil 1994 fiel die Partei 1998 auf 7,5 Prozent zurück. Nach mehreren personellen Veränderungen an der Parteispitze soll der frühere Vorsitzende und Innenminister der Horn-Regierung, Gabor Kuncze, die Partei wieder auf Erfolgskurs führen. Der SZDSZ ist heute eine linksliberale Partei mit Budapest als einziger Hochburg. Sie ist ein potentieller Koalitionspartner der MSZP.

Nationalisten

Die MIEP, geführt vom Schriftsteller Istvan Csurka, entstand 1993 aus rechtspopulistischen Kräften des MDF. Die MIEP vertritt stark nationalistische, chauvinistische, auch offen antisemitische Positionen. Die Partei kam 1998 mit 5,4 Prozent der Stimmen ins Parlament und hofft diesmal auf mehr. Zu ihren Wählern gehören vorwiegend Verlierer der Wende, Kleinexistenzen in Budapest und Umgebung und anderen Industriezentren, neuerdings auch wohlsituierte Bürger und junge Menschen. Die MIEP, formal eine Oppositionspartei, war manchmal auch ein stiller Partner der Fidesz. Die MIEP ist gegen die USA und die NATO eingestellt und hat auch große Vorbehalte bezüglich des EU-Beitritts. Csurka kokettiert mit einer Zusammenarbeit in einer neuen Fidesz-Regierung.

Kleinparteien

Die erst 2001 gegründete Zentrumspartei aus gemäßigten bürgerlichen Kräften, die großteils aus dem ursprünglichen MDF stammen, ist die einzige kleinere Partei, die sich berechtigte Hoffnungen auf einen Einzug ins Parlament machen kann. Ihr gehören auch die ungarischen Grünen an. Sie könnten als möglicher Koalitionspartner der Steigbügelhalter zur Macht werden.

Hingegen werden der FKGP, in der Zwischenkriegszeit eine respektierte, gemäßigte oppositionelle Partei der Landwirte und anderer Kleinbürger, wie auch der linkskonservativen Arbeiterpartei und der Neue Linke, eine Abspaltung der MSZP, kaum Chancen zugebilligt, ins Parlament zu ziehen. (...)

Wahlsystem Ungarns

Ungarns Wahlsystem ist eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Es weist einige Ähnlichkeiten zum deutschen Wahlsystem auf - jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine für eine Partei, eine für einen Direktkandidaten - besitzt aber auch Unterschiede. Denn in Ungarn erfolgt zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang in den meisten Wahlbezirken ein zweiter Wahlgang, um den "Direktkandidaten" aus dem Wahlkreis zu bestimmen.

Denn nur der Kandidat wird im Wahlkreis direkt gewählt, der bei einer Stimmbeteiligung von mehr als 50 Prozent die absolute Mehrheit auf sich verbuchen kann. Andernfalls erfolgt eine Stichwahl, an der alle Kandidaten mit mindestens 15 Prozent aus der ersten Wahlrunde teilnehmen können. Hier genügt die einfache Mehrheit bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 25 Prozent. Von den 386 Abgeordneten im Budapester Parlament werden so 176 Abgeordnete bestimmt. 152 Abgeordnete entstammen den Gebietslisten der Parteien, die mindestens fünf Prozent erreicht haben.

Weitere 58 Abgeordnete werden durch eine so genannte Landes-Kompensationsliste bestimmt. Dort werden die "Reststimmen", die zu keinem Mandat geführt haben, auf die im Parlament vertretenen Parteien aufgeteilt. Dieses System bevorzugt stärkere Parteien und soll dem Parlament zu größerer Stabilität verhelfen. (ykk)