Und die Verfassung?
9. Februar 2011In einem demokratischen Rechtsstaat kann, nein, muss man erwarten, dass sich die Politik an Recht und Gesetz hält, vor allem an das oberste Gesetz, die Verfassung. Zwar kommt es immer wieder vor, dass das höchste Gericht ein Gesetz beanstandet, das nicht in jeder Hinsicht der Verfassung entspricht. Dann muss man nicht gleich unterstellen, dass sich der Gesetzgeber an der Verfassung vorbeimogeln wollte und dabei ertappt wurde. Es kann sich auch um handwerkliche Fehler oder eine Fehlinterpretation der Verfassung gehandelt haben. Wenn aber feststeht, dass ein Gesetz nicht der Verfassung entspricht, müsste die Politik diesen Mangel umgehend beseitigen.
Auf den letzten Drücker
Nichts dergleichen haben die deutschen Politiker getan, nachdem das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 - also vor exakt einem Jahr - einige Aspekte der sogenannten Hartz-IV-Regelung zur Versorgung von Langzeitarbeitslosen und ihren Familien beanstandet hatte. Die Karlsruher Richter beauftragten damals den Gesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung bis zum 1. Januar 2011 in Kraft zu setzen. Spätestens.
Die Bundesregierung ließ sich aber erst einmal viel Zeit. Erst auf den letzten Drücker, in der Sitzung vor Weihnachten, stand ihr Gesetzentwurf im Bundestag zur Abstimmung. Dabei mussten die Regierungspolitiker seit Monaten damit rechnen, dass ihr Vorschlag im Bundesrat scheitern würde, weil sie dort, in der zweiten Gesetzgebungskammer, keine Mehrheit mehr haben.
Unwürdiges Verhalten
So kam es - und nun war es an den Oppositionsparteien, sich nicht um die Verfassung zu scheren. Sie versuchten, unter dem Druck des Verfassungsgerichts-Urteils sozialpolitische Ziele durchzusetzen, für die sie von den Wählern keine Mehrheit bekommen hatten. Bei normalen Gesetzgebungsverfahren ist ein solcher Kuhhandel auch nicht schön, aber legitim. Hier aber ging es, noch einmal, darum, einen verfassungswidrigen Zustand zu beenden. Deshalb hätte sich die Opposition in den Verhandlung auf ihre wichtigsten Anliegen, etwa die Bildungsleistungen für Kinder, konzentrieren müssen. Bei weiteren Zielen wie höheren Regelsätzen für erwachsene Hartz-IV-Bezieher aber hätten sich die Oppositionsparteien gedulden müssen, ob sie bei den nächsten Wahlen einen Auftrag von den Bürgern bekommen.
Das Verhalten von SPD und Grünen in diesen Verhandlungen ist deshalb besonders unwürdig, weil sie es waren, die unter ihrem Kanzler Gerhard Schröder die Gesetze verabschiedet hatten, die dann von Karlsruhe kassiert wurden. Aber offensichtlich war ihnen die Aussicht, mit dem Thema Hartz-IV bei den bevorstehenden Landtagswahlen punkten zu können, wichtiger als der Respekt vor der Verfassung.
Autor: Peter Stützle
Redaktion: Dеnnis Stutе