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Tunesien vor den Wahlen

28. Juni 2011

Tunesien hat eine Vorreiterrolle bei den arabischen Revolutionen eingenommen und will auch beim Umbau in ein demokratisches System vorangehen. Doch inzwischen wächst die Angst vor den alten Garden und den Islamisten.

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Die Proteste gegen den tunesischen Präsidenten Anfang des Jahres waren erfolgreich: Gegner Ben Alis in Berlin im Januar 2011) (Foto: dpa)
Die Proteste gegen den tunesischen Präsidenten Anfang des Jahres waren erfolgreichBild: picture alliance / dpa

Mokhtar Yahyaoui kommt leicht ins Schwärmen, wenn er über sein Tunesien der Zukunft spricht. Der schlanke Endfünziger erzählt dann von einer pluralistischen Gesellschaft, Chancengleichheit, Frauenrechten, freien Medien und einer unabhängigen Justiz. "Das ist mein Traum", sagt der Richter und Menschenrechtsaktivist, der zu Zeiten des Machthabers Ben Ali den unfairen Justizapparat öffentlich angeprangert hatte und dafür vom Dienst suspendiert wurde. Jetzt gehört er der Hohen Kommission zur Vorbereitung der Wahlen an, mit der im Oktober die verfassungsgebende Versammlung bestimmt wird. "Wir haben eine einmalige Chance, eine Demokratie aufzubauen und das ganze Volk steht dahinter", ist Yahyaoui überzeugt, "in zehn Jahren haben wir es geschafft".

Mokhtar Yahyaoui (Foto: DAFG)
Mokhtar Yahyaoui bereitet die Wahlen im Oktober mit vorBild: DAFG

Kein Zweifel - der Neuanfang erfordert einen langen Atem. "Ben Ali, Bourghiba, die Kolonialzeit, die Monarchie - wir haben 300 Jahre Unterdrückung hinter uns und wollen jetzt unseren eigenen Weg in die Demokratie finden", betont Yahyaoui. Gut 90 Parteien haben sich zur Wahl aufgestellt, die Wahlkommission hat sie verpflichtet, ihre Listen paritätisch mit Männern und Frauen zu besetzen. Das hat zwar eine Menge Streit in dem Gremium gegeben, aber am Ende hat sich die Fraktion durchgesetzt, die die Frauenrechte stärken will. Ratsmitglied Yahyaoui ist stolz auf die Arbeit der Kommission. "Das ist eine neue Ära in der Geschichte des Landes."

Warten auf die Früchte der Revolution

Aber es gibt nicht wenige Tunesier, die langsam die Geduld verlieren. Es hat so rasant begonnen. Jetzt sind es schon über fünf Monate, dass Diktator Zine el Abidine Ben Ali weg ist und die Probleme des nordafrikanischen Landes bestehen in vielen Bereichen noch immer. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, die Auslandsinvestitionen sind eingebrochen und die Touristen machen sich rar. Es wird zwar in den Zeitungen freier diskutiert, aber unabhängige Journalisten beklagen sich noch immer über fehlende Meinungsfreiheit und eine desolate Justiz. Durch die Unzufriedenheit kommt es immer wieder zu gewaltsamen Protesten enttäuschter Tunesier.

Ist die so genannte Jasmin-Revolution ins Stocken geraten? Wer es darauf anlegt, kann Zeichen dafür finden. Aber in Tunesien überwiegt die Zuversicht. Daran hat die einem Parlament ähnliche Versammlung, der Yahyaoui angehört, großen Anteil. "Die Hohe Kommission macht eine gute Arbeit", lobt Ralf Melzer, der das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien leitet. Die Mitglieder der "Haute Instance" - darunter sind Intellektuelle, Gewerkschaftler, Wirtschaftsvertreter - würden die Gesellschaft relativ gut abbilden, urteilt der Experte. Das sorge für hohe Akzeptanz: "Tunesien ist auf einem guten Weg!" Allerdings dürfe das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Gefahren gebe. "Das ist eine Bewährungsprobe für die tunesische Gesellschaft", sagt Melzer. Aber "wenn es bis Anfang 2012 keine spürbaren Verbesserungen gibt, könnten reaktionäre Kräfte mehr Einfluss gewinnen".

Mohamed Bouazizi Platz (Foro: DW)
Anzeichen von Aufbruch am Mohamed Bouazizi Platz, wo die Revolution u.a. stattfandBild: DW

Chancengleichheit als oberstes Prinzip

Im Frühjahr 2012 soll das nordafrikanische Land seine neue Verfassung bekommen. Die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung werden am 23. Oktober abgehalten - eigentlich war der 24. Juli dafür angesetzt. Aber die Hohe Kommission war der Ansicht, dass die Zeit zur Vorbereitung nicht ausreicht und setzte sich durch - gegen den Widerstand der Übergangsregierung von Beiji Said Essebsi und der gut organisierten Islamistenpartei Ennahda. Es gibt 93 Parteien, die zu den Wahlen antreten - viele sind erst kürzlich entstanden und sehr klein.

Kritiker fürchten jetzt, dass sich die alten Kräfte, die dem Diktator Ben Ali nahestanden, neu gruppieren können. Aber das scheint dem Mitglied der Wahlkommission, Yahyaoui, wenig Sorgen zu bereiten. "Das sind so zehn oder 20 Gruppen, die sich auf bis auf Bourghiba berufen, aber die machen mir keine Angst und die Tunesier werden ihnen bei den Wahlen zeigen, dass ihre Zeit vorbei ist." Auch von islamistischer Seite sieht er keine Gefahr: "Ben Ali hat die Angst vor den Islamisten geschürt und sie damit groß gemacht, jetzt muss man sie auf ihre natürliche Größe zurückstutzen." Demokratie baue auf Vertrauen, so das Credo des ehemaligen Dissidenten Yahyaoui, "wer das nicht verstanden hat, der hat die Demokratie nicht verstanden".

Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Klaudia Prevezanos