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Rundtisch-Gespräch: Die Ukraine zwischen Ost und West

7. Dezember 2006

Die Ukraine ist in einer „Emanzipations- und Selbstfindungsphase“: Das Land möchte sich gern mehr nach Westeuropa orientieren, aber Russland ist dagegen. Was raten Experten? Fokus Ost-Südost hat Stimmen gesammelt.

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Ein Land sucht seine Perspektive

Wird die Ukraine eines Tages in die Europäische Union aufgenommen oder nicht? Dieser Frage, die vor allem die Jugend interessiert, war der Runde Tisch „Jugend denkt Europa: Die Ukraine zwischen Ost und West – Gegenwart und Zukunft der Beziehungen zu EU und Russland“ gewidmet, der am 30. November in Berlin stattfand. Deutsche und ukrainische Schüler und Studenten diskutierten gemeinsam mit Experten über die derzeitige politische Lage in der Ukraine und die Zukunft.

Fokus Ost-Südost hat einige Stimmen festgehalten:

Gert Weisskirchen, SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag

Mitglied des Auswärtigen Ausschusses:

„Zum Fehlverhalten der ukrainischen Führung gehört die Selbstikonisierung. Die Frage ist, ob da langfristig mehr drin ist, ob sich tragfähige politische Strukturen entwickeln. Jetzt, da sie in der Opposition ist, kann Julija Tymoschenko zeigen, ob sie es kann. Wiktor Janukowytsch ist stark und dynamisch, aber eng verbandelt mit bestimmten Interessengruppen - ob das für das ukrainische Volk insgesamt ein Gewinn ist, da bin ich doch eher zögerlich. Ich glaube, eine Chance für die Ukraine wird sich erst dann wirklich ergeben, wenn die Selbstbesinnung innerhalb der politischen Elite dazu führt, dass sie wegkommt von ihrer Krankheit der Selbstbeweihräucherung. Und was die EU-Perspektive betrifft, möge sich die Ukraine Kroatien als Vorbild nehmen: Das Land führt fleißig und selbstständig die nötigen Reformen durch. Dann wird man sich in der EU vielleicht in 10, 15 Jahren von selbst die Frage stellen: Warum ist die Ukraine immer noch nicht dabei?“

Phillip Ther, Politologe und Historiker,

Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder:

„Bei der heutigen politischen Konfiguration der Ukraine bleibt nur eine ‚Politik der vielen Vektoren’ übrig. Wenn man die verschiedenen Interessen berücksichtigt, die es halt gibt in verschiedenen Landesteilen – und das müssen gar nicht unbedingt politische Interessen sein – wird vielleicht am besten eine Mittellinie fahren. Die einen sind dann eben als Gastarbeiter in Polen, die anderen in Russland. Polen ist ja auch nach Westen offen, schon seit geraumer Zeit. Früher orientierte man sich stärker nach Osten, aber das ist eben inzwischen nicht mehr unbedingt von wirtschaftlichem Interesse. Vielleicht wäre so eine Art ‚Zwischenstellung’ der Ukraine gar nicht so schlecht für das Land.“

Jelena Hoffmann, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages

ehemalige Vorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe:

„Derzeit betrachtet die Europäische Union die Ukraine vor allem als verlässliches Transitland für russisches Öl und Gas. Aber wäre es nicht richtiger, mehr auf Russland zu achten? Und darauf, wie die Angebote der EU an die Ukraine in Moskau aufgefasst werden? Wir brauchen in dieser Region auch aus wirtschaftlichen Gründen eine Stabilität. Stellen wir uns vor, die EU würde der Ukraine konkrete Angebote machen: dass die Ukraine möglicherweise noch vor Russland den WTO-Beitritt schafft, dass sie eventuell der NATO beitreten wird. Würde das der Stabilität in dieser Region dienen oder eher nicht? Wie Russland darauf reagieren wird, ist klar. Deshalb frage ich: Sollen wir darauf Rücksicht nehmen oder sollen wir es bleiben lassen?“

Phillip Ther, Politologe und Historiker:

„Eine Politik der Europäer nach dem Prinzip, Russland um Erlaubnis für die Annäherung an die Ukraine zu bitten, wäre nicht nur seltsam, sondern auch falsch. Imperialismus ist per se instabil und Neoimperialismus auch. Natürlich gibt es diese enge Verbindung zwischen Russland und der Ukraine, aber die ist im Grunde genommen immer noch ein paternalistisches Verhältnis, was meines Erachtens nach immer noch gewisse koloniale Züge hat - mit den entsprechenden Anti-Reaktionen auf ukrainischer Seite.“

Zusammengestellt von Natalia Fiebrig

DW-RADIO/Ukrainisch, 3.12.2006, Fokus Ost-Südost