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Neue Terrorwelle

Birgit Svensson, Bagdad10. Juni 2014

Die Serie von Anschlägen und Attentaten im Irak reißt nicht ab. Nach Falludscha haben Terroristen nun auch die Stadt Mossul größtenteils in ihrer Gewalt. Der Vizepremier spricht von einem Sicherheitsdesaster.

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Anschlagsort in Tikrit (Foto: EPA)

Eine neue Terrorwelle rollt durch den Irak. Mehr als 150 Menschen sind seit dem vergangenen Wochenende bereits getötet worden, mehr als 1000 wurden verletzt. In der westlichen Provinz Anbar wurde in Ramadi die Universität gestürmt und Studenten wurden als Geiseln genommen. Es dauerte Stunden, bis die Armee sie in einer blutigen Aktion befreien konnte. In der östlichen Provinz Dijala und in der Hauptstadt Bagdad explodieren fortwährend Bomben.

Seit diesem Dienstag (10.06.2014) ist Iraks zweitgrößte Stadt Mossul Zielscheibe des Terrors. Der Sitz des Gouverneurs wurde gestürmt und 2400 Gefangene aus den Haftanstalten befreit. Während der Gouverneur sich noch in letzter Minute in Sicherheit bringen konnte, soll die Stadt nun größtenteils in der Hand der Terroristen sein. Die Regierung habe die Kontrolle über Mossul praktisch verloren, heißt es.

ISIL weitet Operationsbasis aus

Der Terror geht offensichtlich von der Organisation "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" (ISIL) aus, die aus Al-Kaida hervorgegangen ist und seit einem halben Jahr auch im Irak ihr Unwesen treibt. Mossul ist nach Falludscha die zweite Stadt im Irak, die ISIL-Mitglieder in ihre Gewalt gebracht haben. "Wir haben ein Sicherheitsdesaster", kommentiert der stellvertretende Premierminister Saleh al-Mutlaq die Situation. Er spricht von einem "Kollaps der Sicherheitskräfte". Mutlaq stammt aus Falludscha, wo mehrheitlich Sunniten leben. Seit Anfang Januar hat sich ISIL dort festgesetzt, ist zeitweise sogar bis zum Bagdader Vorort Abu Ghraib an die Hauptstadt vorgerückt.

Nuri al-Maliki (Foto: Ali al-Saad/EPA)
Premierminister Maliki: "Parlament soll Ausnahmezustand verhängen"Bild: picture-alliance/dpa

Zu den Parlamentswahlen am 30. April hatte Premier Nuri al-Maliki dann eine umfassende Militäroperation zur Befreiung der Provinz Anbar versprochen, in der Falludscha liegt. Doch geschehen ist nichts. Stattdessen weitet ISIL ihre Operationsbasis weiter aus. Nun gehört auch die Provinz Ninewa im Norden dazu, mit der Hauptstadt Mossul, 350 Kilometer nördlich von Bagdad.

Zwar galt Mossul als letzte Hochburg von Al-Kaida. Aber die von den Amerikanern ins Leben gerufene Sahwa, die Allianz der Stammesführer, befriedete zumindest die Provinz bis zum Abzug der US-Truppen Ende 2011. Doch jetzt herrsche dort das blanke Chaos, heißt es in Bagdad. ISIL habe praktisch den gesamten Norden im Visier. Die Aufforderung Malikis im Staatsfernsehen, das neu gewählte Parlament solle zusammentreten und den Ausnahmezustand über die Provinzen verhängen, klingt schon fast wie eine Bankrotterklärung.

Angegriffene Fahrzeuge der irakischen Sicherheitskräfte in Mossul (Foto: Reuters)
Angegriffene Fahrzeuge der irakischen Sicherheitskräfte in Mossul: "Das blanke Chaos"Bild: Reuters

"Man stelle sich mal vor", sagt Vizepremier Mutlaq müde, "die Armee hat 1,5 Millionen Soldaten. Und die können nicht für Ruhe und Ordnung sorgen?" Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der es in seiner vorigen Amtszeit nicht geschafft hat, die Posten des Verteidigungs- und des Innenministers zu besetzen.

Der Armee laufen die Soldaten weg

Nachdem US-Administrator Paul Bremer nach dem Einmarsch der Vereinigten Staaten vor elf Jahren die irakische Armee über Nacht aufgelöst hatte, machten sich die Amerikaner daran, die Sicherheitskräfte neu aufzubauen. Alle Volksgruppen Iraks sollten vertreten sein - was auch gelang. Das führte dazu, dass die irakische Armee noch vor drei Jahren im Land einen ausgezeichneten Ruf als unparteiisch und national orientiert genoss.

Das hat sich inzwischen geändert. Reihenweise laufen Soldaten davon. Ganze Bataillone haben den Dienst an der Waffe bereits quittiert. Vor allem Kurden haben sich aus der irakischen Armee fast vollständig zurückgezogen, nachdem Premier Maliki sich mit der Regionalregierung in der kurdischen Hochburg Erbil anlegt hatte und der Streit um Kirkuk und ums Öl eskalierte. Auch in Mossul sollen Dutzende, zumeist Sunniten, demonstrativ ihre Uniformen ausgezogen und ihre Posten aufgegeben haben, als ISIL einrückte. Auf der Seite eines schiitischen Premiers zu kämpfen, der die Belange der sunnitischen Minderheit mit Füßen tritt, wollten viele offenbar nicht hinnehmen.

Der Vizepremier als Vermittler

Auch Maliki und sein sunnitischer Stellvertreter Saleh al-Mutlaq sind zerstritten. Mutlaq hatte Maliki vor zweieinhalb Jahren als "gescheiterten Diktator" bezeichnet und wurde daraufhin von seinem Posten als Vizeregierungschef suspendiert. Maliki ließ Mutlaq und dessen Stab alle Lizenzen und Genehmigungen entziehen. Auch deren Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt.

Vizepremier Salih al-Mutlak (Foto: Karim Kadim/AP)
Vizepremier Mutlak: "Kollaps der Sicherheitskräfte"Bild: picture-alliance/AP

Doch Maliki brauchte Mutlaq als Vermittler in dessen alten Heimat Falludscha. Die Demonstrationen der Sunniten, die im Dezember 2012 dort begannen, rissen nicht ab. Sie forderten mehr Mitsprache, eine größere Teilhabe am politischen Prozess, mehr Stellen in Armee und Polizei. Seine Gespräche in Anbar hätten damals einen Bürgerkrieg verhindert, behauptet der stellvertretende Premier. Als Mutlaq Mitte April 2014 nach Abu Ghraib fuhr, um mit Vertretern von ISIL zu verhandeln, entging er nur knapp einem Attentat. Doch nicht die Terroristen hätten auf ihn geschossen, sondern Mitglieder der irakischen Armee, sagt Mutlaq. Jetzt ist er sich nicht mehr sicher, ob ein Bürgerkrieg noch verhindert werden könne.