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MOMAnia - Der Countdown läuft

Katrin Matthaei20. September 2004

Beim klassischen Marathon schießen den Läufern auf 42,2 Kilometern körpereigene Drogen in den Kopf. Um Exzess geht’s auch beim Berliner MOMArathon.

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Berlin nimmt Abschied

In Berlin variiert die Länge des "Marathon" zwischen ein oder zwei Umrundungen der Neuen Nationalgalerie im Mies van der Rohe-Tempel. Der MOMArathon versetzt die Wartenden in eine "Ich war dabei"-Extase und kann bis zu elf Stunden dauern. Sportliche Ausdauer ist gefragt: In der schier unendlich langen Warteschlange den Hocker oder die Iso-Matte weiter schieben, den platt gesessenen Hintern entlasten und die mitgebrachte Lektüre zwischen den Händen hin- und herwechseln. Grund: Picasso und Matisse müssen zurück ins Museum of Modern Art nach New York, und deshalb reist die halbe Republik nach Berlin, um sich im 96-stündigen Nonstop-Öffnungsmarathon noch mal richtig MOMAnizen zu lassen.

Das geht in die Beine

Warteschlange vor der Berliner Moma- Ausstellung, Neue Nationalgalerie
SOS Sit-on-Service an der Warteschlange vor der Berliner Moma-Ausstellung

Ein Marathon auch für alle, die hinter den MOMA-Kulissen arbeiten. "Ick bin froh, wenn dit hia ma vorbei is." Conny Müller greift auf der Garderoben-Holztheke nach zwei dunkelblauen Iso-Matten, steckt ihnen eine Nummer an und legt sie an die Glaswand, neben einen Picknick-Korb. "War zwar schön, aba nu is auch jut." Seit Februar hat die Brandenburgerin 1600 Arbeitsstunden im MOMA-Wahn zugebracht.

"Ick hab mia die Ausstellung nisch anjeschaut - det reicht mir, wenn ick hia den janzen Tag arbeiten muss", sagt Conny. An Spitzentagen hat sie 10.000 Anoraks, Einkaufstüten und Schlafsäcke verstaut und wieder ausgegeben. Drei Meter in die Garderoben-Reihe rein, Jacke vom Haken, drei Meter zurück zur Theke. Das geht in die Beine.

"Und das soll Kunst sein?!"

"Isch mach abends immer Füßbad", flüstert ein thüringischer Aufseher einen Stock tiefer aus der Ecke zwischen zwei Gemälden von Georges Brauqes hervor. Am späten Nachmittag ist die Luft im Herzen des MOMA-Tempels ziemlich dick. Schwer geht sein Atem unter der rot-schwarz gestreiften Uniform-Karawatte. Bedeutungsvoll deuten seine großen Augen hinter der Hornbrille in die Richtung von Jackson Pollocks moderner Nummern-Farbgestaltung: "Na, isch weiß nisch, ob des so wirklich Künst is." Dann gleitet sein Blick wieder - ganz der Aufseher - über die Besuchertrauben.

"Die Amis sind doch neidisch auf uns!"

Sein Kollege, Aufpasser Walter Kreutz, ist exklusiv für den MOMArathon von der Berliner Gemäldergalerie "ausgeliehen" worden. Er ist stolz, bei der großen MOMA-Show dabei zu sein: "Mal ehrlich: Die Amis hätten doch auch gerne was vom Mies van der Rohe-Tempel gehabt. Dass die ganzen Objekte jetzt wieder zurück zu den New Yorker Hochhäusern müssen, finden die doch auch nicht gut!" Nachdenklich gleitet sein Blick über Bruce Naumanns Installation mit zwei aufgehängten Stahlbalken, von denen vier bunte Stühle baumeln. "Ich persönlich mag eher so die älteren Sachen", beendet er dann das Gespräch, weil er aufpassen muss.

Aufpassen auf die wie ferngesteuert wirkenden Besucher, die mit ihren Audio-Kopfhörern um die Stahlbalken herumlaufen und dem Kunstführer aus der Konserve lauschen. Die meisten sehen blass aus: Um 8 Uhr morgens haben sie sich geduldig an der Marathon-Schlange angestellt. Jetzt ist es 15 Uhr und sie wollen, müde aber aufgeregt, endlich live sehen, was sie seit Jahren als Kunstdruck über dem Frühstückstisch oder dem Wohnzimmer-Sofa hängen haben: Monets "Seerosen" oder Delaunays "Sonne und Mond".

Anstehen für Geld

Wartender vor der Berliner Moma- Ausstellung, Neue Nationalgalerie
Martin Schwedusch, hauptberuflicher "MOMA-Ansteher"

Müde ist auch Martin Schwedusch, seit zwei Wochen hauptberuflicher "MOMA-Ansteher". Für zehn Euro pro Stunde wartet er sich für andere in der Schlange bis zum Eingang durch. Seine Kunden besichtigen in der Zeit das Brandenburger Tor oder gehen zum Frisör. Jetzt, beim Marathon, bleibt ihm und seinen "Undercover"-Partnern gar keine Zeit mehr zum Schlafen. "Ich muss irgendwie unsere Schichten koordinieren. Sonst wird das total chaotisch", murmelt er. Der Schlafentzug macht sich bemerkbar. Zwischen 5 und 22 Uhr Anstehen bleibt eben nicht viel Zeit zum Schlafen. Die Zeit vertreibt sich der 31-Jährige Chinesisch-Student mit Lernen oder Klönen. Mit einem Münchener Pärchen hat er sogar Adressen ausgetauscht. "Aber allmählich geht mir der Smalltalk auf den Keks."

Nebendran kann man sich für 2 Euro 50 einen Kaffee im braunen Container "Einstein Café" holen. "Wir haben hier ein gutes Geschäft gemacht", sagt Lukas Benda, der Filialleiter. Bei acht Stunden Wartezeit leisten sich viele Besucher auch mal eine Bratwurst für 2 Euro 50. Auch Lukas hat tiefe Ränder unter den Augen. "Wir haben hier ein wahres Organisationswunder vollbracht", sagt der 25-Jährige. Beim anlaufenden MOMArathon zieht sein Café mit, das Geschäft mit Kunden rund um die Uhr lässt er sich nicht entgehen. "Wir machen durch bis Sonntag nacht und dann gibt's erst einmal Champagner." Spätestens dann müssen alle MOMA-Fans die Ziellinie erreicht haben.