Mein deutsch-türkisches Weihnachten
15. Dezember 2012Baha Güngör ist 1950 in Istanbul, Türkei, geboren. Er kam 1961 nach Deutschland und ist seit 1999 Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle und lebt in Bonn. Baha Güngör erinnert sich:
"Baba Carduck", eigentlich Joseph Carduck, war der Vermieter meiner Studentenbude in Aachen. Er gehörte zu der damals noch existierenden Mehrheit der Deutschen, die nicht nur verbal "nichts gegen Türken" hatten. Vielmehr vermietete er seine vier Studentenbuden nur an Türken und fühlte sich als deren "Baba".
Alle Jahre wieder
Alle Jahre wieder freute sich "Baba Carduck" auf den Heiligen Abend mit uns. Er lebte alleine und an jedem 24. Dezember waren wir vier bei ihm zum Abendessen eingeladen. Sein Weihnachtsbaum war klein und stets nett geschmückt. Es brannten mehrere Kerzen in seinem Wohnzimmer, wo er den Tisch für uns reichlich deckte.
Nur eine Kerze regte uns auf, weil ihr Feuer ein Englein zum Drehen brachte und gefühlt jede Sekunde ein kleines Glöckchen läutete. Ping, Ping, Ping ... Einer von uns blies immer wieder die Kerze heimlich aus. Doch er merkte nach wenigen Minuten, dass das Englein sich nicht mehr drehte. Er zündete die Kerze an oder bat uns darum. Das Spielchen erstreckte sich über Stunden. Es wurde viel erzählt, viel geflachst und viel gelacht. "Baba Caduck" erzählte uns Geschichten aus seinem Leben und hörte sich unsere an.
Ein bunter Weihnachtsteller
Wir, Musa, Mehmet, Gökhan und ich freuten uns am meisten auf den Morgen des 25. Dezember, den 1. Weihnachtstag. Auf den Fußmatten vor den Türen unserer Zimmer stand immer ein Weihnachtsteller. Der Teller war voll mit Walnüssen, Haselnüssen, kleinen Printen und Schokolade. Eine Flasche Rotwein und 20 Mark für jeden von uns waren auch dabei. Der Weihnachtsmann hat uns nie verfehlt. Unser Weihnachtsmann hieß "Baba Carduck".
Mehmet nahm stets den Wein und die 20 Mark, bevor er die Leckereien gerecht in die übrigen drei Teller verteilte. Gökhan suchte jedes Jahr nach einem Nussknacker und wunderte sich, als Musa ihm einmal seine LP mit der Nussknacker Suite Tschaikowskis in die Hand drückte: "Kann ich damit die Walnüsse knacken?"
Unser Weihnachtsmann
Jedes Jahr nahmen wir uns fest vor unseren "Baba Carduck" am nächsten Heilig Abend zu uns nach oben einzuladen und ihm leckere Sachen zu kochen. Wir hofften dabei vor allem, dem nervenden "Ping, Ping, Ping" des sich drehenden Engleins an der Kerze entkommen zu können.
Doch unser Weihnachtsmann profitierte von unserer Unfähigkeit, uns rechtzeitig zu organisieren, und freute sich herzerfrischend, wenn wir, seine Söhne, wieder seine Gäste am Heiligabend waren. Er konnte sich stets sicher sein, dass wir kommen, weil damals in den 70ern fast überall alle Restaurants und Tavernen am 24. geschlossen waren. Er hat mit uns nicht unter Einsamkeit gelitten und gleichzeitig uns vor der Einsamkeit am Heiligabend geschützt. Ruhe in Frieden, "Baba Carduck", unser Weihnachtsmann.