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Unterschätztes Lateinamerika

5. August 2010

Außenminister Westerwelle will einen neuen Umgang mit Lateinamerika. Ein vom Kabinett beschlossenes Konzept sieht die gemeinsame Lösung globaler Probleme vor. Die hiesige Wirtschaft soll von der Boomregion profitieren.

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Bundesaußenminister Guido Westerwelle, Foto: ap
Westerwelle bei der Vorstellung des Lateinamerika-KonzeptesBild: AP

Von "gleicher Augenhöhe" ist die Rede, "neuer Qualität" und einer "Sonderstellung", wenn Guido Westerwelle das künftige Verhältnis von Deutschland zu Lateinamerika beschreibt. Der liberale Außenminister sieht den amerikanischen Subkontinent von seinen Vorgängern gründlich unterschätzt und fordert einen neuen Umgang. Man solle nicht glauben, dass sich dynamische Wachstumsregionen wie Lateinamerika damit zufrieden geben würden, allein als Handelspartner oder Investitionsstandort betrachtet zu werden, sagte Westerwelle am Mittwoch (04.08.2010) vor hunderten Zuhörern, darunter auch lateinamerikanischen Botschaftern, in Berlin: "Mit jedem Jahr, in dem sie wachsen und erfolgreicher werden, werden sie den Anspruch erheben, bei den wichtigen Themen der Weltpolitik mit Autorität mitzureden und globaler Akteur zu sein", betonte der Außenminister.

Dynamische Wachstumsregion

Lateinamerika erwartet in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von über fünf Prozent, während Europa Mühe haben wird, die eins vor dem Komma zu erreichen. Um vom lateinamerikanischen Boom zu profitieren, hatte Deutschland bereits eine Außenwirtschaftsoffensive beschlossen, bei der die Politik den Unternehmen weitgehende Hilfestellung leistet. Doch während die Wirtschaft seit jeher ein Feld enger Zusammenarbeit war, entdeckt Berlin Lateinamerika auch als Partner bei der Lösung globaler Herausforderungen, wie Finanzkrise, Klimaschutz, Energiepolitik, Abrüstung und Kampf gegen Drogen oder den Terrorismus. "Wir teilen mit Lateinamerika nicht nur gemeinsame wirtschaftliche Interessen, sondern vor allen Dingen auch gemeinsame Werte", sagte Westerwelle und nannte diese eine "gute Basis" für eine enge Kooperation, auch wenn die einzelnen Staaten in Lateinamerika so unterschiedlich seien.

Menschenrechte an erster Stelle

Dort, wo es mit der Umsetzung der Werte noch hakt, will Deutschland Hilfestellung geben. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit stehen an erster Stelle im neuen, vom Kabinett gebilligten Lateinamerikakonzept der Bundesregierung. Beim schwierigen Umgang mit Kuba setzt man weiter auf die gemeinsame europäische Politik, die vor allem von Spanien vorgegeben wird. Insgesamt aber will man Spaniern, Portugiesen, Franzosen und Italienern nicht mehr allein das Feld überlassen.

Das Konzept stieß bei den zahlreichen lateinamerikanischen Vertretern im überfüllten Weltsaal des Außenministeriums auf großes Wohlwollen. Argentiniens Botschafter Guillermo Nielsen sieht sogar die Möglichkeit, "eine historische Verbindung wieder herzustellen". Argentiniens wichtigster Markt für die meisten Erzeugnisse sei zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Deutschland mit seiner "überragenden Präsenz" gewesen. "Persönlich bin ich sehr zufrieden mit vielen Akzenten, die Westerwelle setzt, weil sie für mich ein Zeichen dafür sind, dass Deutschland seinen Platz in Lateinamerika wieder einnehmen will", lobte der Argentinier.

Gefahren des Booms

Geteiltes Echo gab es aus den Reihen von Nichtregierungsorganisationen, wie dem katholischen Hilfswerk Misereor. Dessen Lateinamerikaexperte Hein Broetz lobt zwar den ausdrücklichen Schutz, den die deutsche Regierung für Menschenrechtsverteidiger einfordert. Gefahren berge das Konzept allerdings dort, wo forciertes wirtschaftliches Handeln zu neuen Vertreibungen und neuer Armut führe. Das gelte für den Anbau von Pflanzen für agrarische Kraftsstoffe und für den Rohstoffabbau in Lateinamerika, an dem Deutschland ganz besonderes Interesse habe. "Mich hätte in dem Papier interessiert, wie der vielfach vorkommende Begriff 'Nachhaltigkeit' definiert ist", merkt er an. Aus der Perspektive von Misereor könne es nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit gehen - und selbst die ist in den großen industriellen Rohstoffprojekten in Frage gestellt - sondern auch um soziale Nachhaltigkeit. "Sehr häufig werden indigene Völker für Rohstoff- und Infrastruktur-Großprojekte vertrieben. Da hätte ich mir noch klarere Aussagen und Positionierungen gewünscht", sagt Broetz.

Attraktives Brasilien

Besonders in Brasilien, wo die Olympischen Spiele und die Fußballweltmeisterschaft stattfinden werden, verspricht sich die deutsche Wirtschaft gute Geschäfte bei Großprojekten. Westerwelle lobte Brasilien auch für den Ausbau der Atomenergie und sieht politische Übereinstimmungen beim Streben nach einer Reform des UN-Sicherheitsrates, in dem sowohl Brasilia als auch Berlin einen ständigen Sitz anvisieren.

Der sozialdemokratische Politiker Klaus Brandner sieht Brasilien als Beispiel dafür, wie die Schere zwischen Arm und Reich ein wenig geschlossen werden könne. Das Lateinamerika-Konzept wertet er allerdings vor allem als Versuch Westerwelles, sich als Außenpolitiker zu profilieren. Vieles darin sei nicht neu, sagte Brandner.

Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Ina Rottscheidt

Brasiliens Präsident Lula da Silva, Foto: ap
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Westerwelle im März bei Argentiniens Präsidentin KirchnerBild: AP