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Zeitreise in die Lebenswelt Goethes

Jochen Kürten6. September 2015

"Als Deutschland noch nicht Deutschland war - Reise in die Goethezeit" heißt das Buch von Bruno Preisendörfer. Goethe spielt eine Hauptrolle, aber nicht die entscheidende. Warum nicht, erklärt der Autor im DW-Gespräch.

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Gemälde Goethe in Italien von Tischbein (Foto: picture-alliance/arkivi UG)
Bild: picture-alliance/arkivi UG

Deutschland ist in aller Welt bekannt für Marken wie Mercedes und Siemens, für VW und BMW. Doch Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister in Sachen Wirtschaft. Auch als Kulturnation hat das Land einen guten Klang in aller Welt. Meist fällt dann schnell der Name Goethe. Bruno Preisendörfers unterhaltsame Kulturgeschichte, wochenlang auf der Sachbuch-Bestsellerliste, trägt den vielversprechenden Titel "Als Deutschland noch nicht Deutschland war - Reise in die Goethezeit".

Sie beschäftigt sich aber nicht mit Hochkultur oder der Interpretation der Werke Goethes, sondern schaut auf das Leben zu Zeiten des Dichters, also: auf den Alltag! Bruno Preisendörfer war als Zeitreisender unterwegs und hat geschaut, wie die Menschen - Prominente wie Goethe, aber eben auch ganz "normale" Bürger - damals gelebt haben, mit was sie sich herumschlagen mussten. Ein Gespräch mit dem Autor.

Eine junge Frau geht am am Eingang des Goethe Institutes in Berlin vorbei (Foto: Tim Brakemeier/dpa)
Goethe ist der Name, der in aller Welt für deutsche Kultur stehtBild: picture-alliance/dpa/T. Brakemeier

"Die normalen, banalen Lebenserscheinungen..."

DW: Herr Preisendörfer, was hat Sie gereizt, den Dichterfürsten Goethe mit dem Blick auf den Alltag der Menschen zusammenzubringen?

Bruno Preisendörfer: Das Buch ist kein Goethe-Buch, sondern ein Buch über die Goethezeit. Das ist wichtig. Thema des Buches ist die Zeit, in der Goethe gelebt hat, also die Jahre um 1800. Wenn man also ein Buch über die Goethe-Zeit schreibt, ist der Meister selbst natürlich unvermeidlich. Das ist klar. Aber es ging mir vor allem darum, die Lebenswelten in dieser Epoche zu schildern. Also nicht nur den Blick hinauf auf die Großen zu richten, sondern auch die ganz normalen, banalen Lebenserscheinungen erzählerisch darzustellen.

Es ist keine systematische, handbuchartige Darstellung der Zeit, sondern eine erzählerische Aufbereitung. Der Leser soll das Gefühl bekommen, sich auf eine Zeitreise zu begeben. Er soll mit Hilfe einer literarisch simulierten Zeitreise in das Leben der Menschen eindringen und daran teilnehmen. Das war mein Ziel.

Kritiker und Autor Bruno Preisendörfer (Foto: dpa)
Bruno PreisendörferBild: picture-alliance/dpa/U. Zucchi

Während dieser Zeitreise haben sie sicher auch oft verglichen: Was hat sich am meisten verändert im Vergleich zu heute? Ist es die Geschwindigkeit, Stichwort Digitalisierung?

Es hat sich natürlich ganz viel verändert. Die Geschwindigkeit ist eine bedeutende Sache. Aber natürlich auch der ganze Fortschritt in der Wissenschaft und in der Technik. Auch in der Medizin. Wenn man zeitgenössische Berichte liest - um nur willkürlich ein Beispiel herauszupicken - über einen Zahnarzt, dann wird einem Angst und Bange. Da ist man dann plötzlich, bei aller Kritik an der Gegenwart, die auch sein muss, dankbar, wenn man das vergleicht.

…und wo hat sich weniger verändert?

Auf der menschlichen Ebene! Auf der seelischen Ebene, der Verfassung der Menschen. Bei der Psychologie ist vieles noch nah dran bei uns. Wenn man also Texte von Goethe liest, aber auch die von anderen, kann man die handelnden Figuren, sei es bei Heirats-Geschichten, bei Intrigen, bei Liebesgeschichten, bei Abenteuergeschichten, sofort verstehen. Da braucht man keine großen Erläuterungen.

Da ist man sehr nah dran, während man bei den äußeren Umständen, also bei Dingen wie Licht oder Heizung - da kann man aufzählen, was man will - eine gigantische Kluft zwischen uns und den Menschen dieser Zeit existiert. Ich fand es faszinierend, dass man einerseits auf der menschlichen Ebene noch sehr, sehr nahe dran ist bei den Menschen und bei allen sachlichen Dingen, die das äußerliche Leben betreffen, unendlich weit weg. Das ist eine verrückte Kombination.

Gab es auch eine Art "Gegenteil" zum Zahnarzt? Wo Sie sagen würden, da hat sich die Welt nicht zum Positiven entwickelt im Vergleich zu damals?

Eine Pferdekutsche steht auf der Straße (Foto: Copyright: Fotolyse - Fotolia.com)
Das Reisen zur Zeit Goethes spielt in Preisendörfers Kulturgeschichte eine große RolleBild: Fotolyse - Fotolia.com

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt ja so einen Gestus der Kulturkritik, der darauf hinausläuft: "Früher war alles besser". Davon halte ich nichts. Andererseits gehöre ich auch nicht zu denen, die einem ungeschützten Fortschrittsglauben nacheifern. Das ist auch nicht meine Position.

Was sich sicherlich verschlimmert hat, gerade weil es sich "verbessert" hat, sind zum Beispiel die Techniken der Kriegsführung. Damals waren die Menschen entsetzt, wenn eine Kanonenkugel 200 Meter weit geflogen ist. Heute drückt man auf den Knopf und kann ganze Städte auslöschen. Das ist natürlich eine Sache, die ganz furchtbar ist. Aber es ist natürlich billig, das zu beklagen: Ich möchte trotzdem nicht in der Kutsche herumreisen heute.

Vom Ende der Gutenberg-Galaxis

Was fällt Ihnen ganz persönlich zum Wandel ein? Sie sind ja Schriftsteller.

Für mich als Schriftsteller, als jemand, der sowohl in geistiger als auch in finanzieller und ökonomischer Hinsicht eine literarische Existenz führt, ist natürlich die damalige aufstrebende Zeit der Literatur eine attraktivere Zeit gewesen als jetzt. Der literarische Markt entwickelte sich explosionsartig um 1800. Heute ist man, wie manche sagen, am Ende der Gutenberg-Galaxis angelangt. Die Literatur, die hochwertige Literatur, das Buch, sie alle erleben einen Niedergang. Ich glaube, diese Diagnose ist schwer zu bestreiten. Trotzdem würde ich auch da nicht sagen wollen: Ach würde ich doch bei Wieland, Goethe und Schiller leben…

Cover des Buches "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" von Bruno Preisendörfer (Foto: Verlag)
Bild: picture-alliance/dpa/Verlag Galiani Berlin

Goethe und die Goethe-Zeit sind gut erforscht. Trotzdem: Auf welche Überraschungen sind sie gestoßen bei Ihren Recherchen? Was waren ihre interessantesten Recherche-Erfahrungen?

Die Zeit ist wirklich vollkommen ausgeforscht, entdecken kann man da nichts mehr. Aber es gibt natürlich dann doch Nischen oder dunkle Ecken, wo man Dinge findet, die auch für jemand, der sich vergleichsweise gut auskennt, überraschend sind. Da stößt man dann auf Sachen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen.

Als Beispiele nenne ich: Berichte über die Psychiatrie, über das Hebammen-Wesen. Alles, was mit der Geburt von Kindern oder dem Leben von Kindern zu tun hat. Die Kindersterblichkeit damals, auch die Müttersterblichkeit, das war schon gewaltig. Das war mir so nicht klar. Diese Dinge in so einer Drastik vorgeführt zu bekommen, das ist eines der Beispiele, die mich schon überrascht haben.

Bruno Preisendörfer: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war - Reise in die Goethezeit", Galiani Verlag 2015, 518 Seiten, ISBN978-3-86971-110-2.