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Kroatien muss ausliefern

Das Interview führte Julia Elvers16. März 2005

Kroatien kommt vorerst nicht in die EU. Ein harter Schlag, sagt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic im DW-WORLD-Interview. Aber die Bevölkerung setze die Regierung auch zu wenig unter Druck.

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Der Stein des Anstoßes: Ante GotovinaBild: AP

DW-WORLD: Frau Drakulic, die luxemburgische EU-Ratspräsidentschaft hat bekannt gegeben, dass die EU nicht, wie vorgesehen, am 17. März Beitrittsverhandlungen mit Kroatien aufnehmen wird. Diese sollen erst dann beginnen, wenn die kroatische Regierung "uneingeschränkt" mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammenarbeitet. Ist es ihrer Meinung nach gut oder schlecht, die Verhandlungen zu verschieben?

Buchmesse Leipzig - Slavenka Drakulic
Das Porträt der kroatischen Schriftstellerin Slavenka Drakulic, aufgenommen am 16.3.2005 in LeipzigBild: dpa Zentralbild

Slavenka Drakulic: Es ist klar, dass nicht die EU darum bittet, Mitglied von Kroatien zu werden, sondern Kroatien will Mitglied der Europäischen Union werden. Die EU ist eine Art Klub. Und wenn jemand die Aufnahme-Bedingungen nicht erfüllt, sagt der Klub einfach nein. Das finde ich als kroatische Staatsangehörige sehr schade. Meine Meinung war schon immer: Je früher wir Mitglied der Europäischen Union werden, desto besser.

Auf der anderen Seite verstehe ich, dass die Bedingungen nicht erfüllt wurden. Einer der Gründe - die Nicht-Auslieferung eines vermutlichen Kriegsverbrechers, Ante Gotovina – hat direkt mit meinem Thema als Schriftstellerin zu tun, deshalb interessiert mich das alles natürlich sehr. Ich denke, positiv ist, dass Kroatien, die kroatischen Bürger und die kroatische Führung ihr Land in die EU bekommen wollen. Es ist ein harter Schlag, weil wir es alle erwartet haben. Und es ist ein harter Schlag für die Politiker und die Regierung, weil sie in letzter Zeit ein anderes Gesicht gezeigt hat, obwohl es dieselbe alte Partei von Herrn Tudjman ist, vom späten Tudjman.

Es ist traurig, auf der anderen Seite aber vielleicht auch eine Lehre, dass die Europäische Union keine Versprechen erwartet, sondern Taten. Wir müssen handeln, wir müssen ausliefern.

Glauben Sie, dass die kroatische Regierung weiß, wo sich Gotovina versteckt?

Das sind nur Spekulationen. Ich weiß es nicht. Kroatien ist ein kleines Land mit nicht einmal fünf Millionen Einwohnern, und es ist fast so, als würden wir uns alle kennen. Gotovina genießt Schutz in der Armee und in der Polizei. Die Strukturen haben sich seit Tudjmans Zeiten nicht grundlegend geändert. Also kann man vermuten: Ja, die Verantwortlichen in der Armee und bei der Polizei wissen es nicht nur, sondern helfen ihm möglicherweise sogar. Aber das sind, wie gesagt, nur Spekulationen. Die Regierung behauptet, es nicht zu wissen. Dasselbe gilt für die serbische Regierung, die behauptet, nicht zu wissen, wo Karadzic und Mladic stecken. Es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen.

Lesen Sie auf Seite 2 des Interviews, wie die Kroaten über den Verhandlungsstopp denken.

Wie ist die Stimmung im Volk – wie denkt die Bevölkerung über die Entscheidung?

Dazu muss man verstehen, was Europa für Osteuropäer bedeutet. Kroaten zum Beispiel waren immer der Meinung, dass sie zu Europa gehören. So wie die Tschechen, die sagen, dass sie nur ungerechter Weise auf der anderen Seite der Grenze Europas gelandet sind, obwohl sie auch Europa sind. Es geht auch um die Idee, dass Europa ein besseres Leben bedeutet, mehr Freiheit, alles, was – auch im materiellen Sinne – die Westeuropäer haben. Und schließlich gilt das Motto: Zurück zur Familie! Dies hat nicht nur politische und ökonomische Aspekte, sondern starken symbolischen Charakter für Länder wie Kroatien. Und daher ist ihre Enttäuschung umso größer.

Man könnte sagen, wenn nicht jetzt, dann können wir später – in drei, fünf oder sieben Jahren – Mitglied werden. Aber die Traurigkeit rührt von dieser Symbolik her: "Oh, wir sind Europäer, und die wollen uns nicht!" Es geht auch um Gefühle. Und die sind jetzt verletzt. Aber wie gesagt: Es ist ein Klub.

Was für uns – und ich meine die kroatischen Bürger und die Regierung – vielleicht schwierig zu verstehen ist, ist, dass wir ausliefern müssen! Dass wir verantwortlich sind! Die Leute haben Schwierigkeiten, weil es diese Art von Verantwortung während des Kommunismus nicht gab. Aber wenn die Regierung nicht ausliefert, sollte sie nicht von Brüssel unter Druck gesetzt werden, sondern von der eigenen Bevölkerung! Diese Regierung führt uns in die richtige Richtung, aber sie tut nicht genug.

Kann der Druck aus Brüssel nicht auch kontraproduktiv wirken und anti-europäische und nationalistische Stimmen im Land stärken?

Das wird auf jeden Fall geschehen, weil die Nationalisten mehr als zufrieden sind, ihr eigenes kleines, isoliertes Land zu haben, in dem sie tun können, was immer sie wollen. Aber ich glaube, die Bevölkerung wird das nicht akzeptieren. Sie will keine Isolierung, kein Nationalisten-Paradies.

Und dann gibt es noch die vielleicht grundlegende Frage, ob Kroatien finanziell und wirtschaftlich als unabhängiger Staat existieren kann. Ich glaube, jeder weiß, dass es das nicht kann. Also ist Europa nicht nur etwas, was wir brauchen, sondern auch unser Schicksal. Es geht nur darum, wann es passieren wird. Wir wollen alle, dass es eher früh als spät geschieht, und das ist das Problem. Aber es wird geschehen.

Slavenka Drakulic (55) erhält am Mittwoch (16.3.2005) den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Die Auszeichnung erhält die Journalistin und Schriftstellerin für ihr Buch "Keiner war dabei – Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht".