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Kommentar: Ein spätes Geständnis ist besser als gar keins

15. August 2006

Dass Günter Grass zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS geschwiegen hat, ist unentschuldbar. Aber wenigstens hat er die eigene Scheinheiligkeit eingestanden, findet Toma Tasovac.

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Oskar Matzerath, der unverschämte Ich-Erzähler in Günter Grass' bekanntestem Roman "Die Blechtrommel", hörte im Alter von drei Jahren vorsätzlich auf zu wachsen sah die Welt daher aus dem Blickwinkel eines Kindes - von unten nach oben. Günter Grass dagegen verhielt sich stets wie jemand, der größer gewachsen ist als der Rest der Welt und über allem erhaben nur reines, unschuldiges Gedankengut in sich trägt.

Im Nachkriegsdeutschland wurde Günther Grass zu einer moralischen Institution und treibenden Kraft, was die Aufarbeitung der Nazivergangenheit betraf. Als "Gewissen der Nachkriegsgeneration" leistete Grass einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung Deutschlands zur offenen, demokratischen Gesellschaft, die sie heute ist.

Es liegt in der Natur einer Autorität, egal ob moralisch, politisch oder militärisch, dass sie zu ihren Untergebenen herab spricht. Günter Grass hat jahrzehntelang zu den Deutschen herab gesprochen, als er jahrelang gefällig zur Sowjetunion blickte und beim Gefängnis DDR gerne ein Auge zudrückte. Er sprach zu ihnen herab, als er sich geschockt zeigte, wie die Ostdeutschen ihre sozialistischen Träume hinter sich ließen und lieber den Verlockungen des Kapitalismus folgend über die Grenze nach Westen strömten. Und er sprach herablassend, als er sich gegen die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten aussprach, da sich die Deutschen guten Grund dazu gehabt hätten, sich vor der eigenen Einheit zu fürchten.

Günter Grass wusste es immer besser.

Sein säumiges Geständnis über die Mitgliedschaft in der der Waffen-SS - als 17-Jähriger im Jahre 1944 - ist deshalb ein Schock für alle, in Deutschland und außerhalb. Man mag es eben nicht, wenn ein Unnahbarer plötzlich die Hosen herunterlässt. Wenn überhaupt, bewirft man lieber jemanden mit Dreck, als dass sich dieser selbst damit bewirft.

Es ist absolut unentschuldbar, dass Günter Grass über ein halbes Jahrhundert gewartet und die Wahrheit für sich behalten hat - nachdem er ein halbes Jahrhundert lang den Deutschen den moralischen Imperativ über die eigene Vergangenheit gepredigt hatte. Es ist enttäuschend und unbehaglich zu sehen, dass Grass, der leidenschaftlich davor warnte, "die Vergangenheit nicht enden zu lassen", die eigene Vergangenheit so lange im Verborgenen hielt. Es ist traurig und blamabel, wie so eine Gestalt wie er sich nun in Sentimentalität ("Ich habe das über 60 Jahre lang als Makel empfunden") oder Narzissmus flüchtet und die momentane Lawine der Kritik als einen "Versuch einiger", ihn "zu einer Unperson zu machen", beschreibt.

Jemand, der an die Grass'sche Unfehlbarkeit als eine Art linke Antwort an den Heiligen Vater geglaubt hatte, war einfach naiv. Unfehlbarkeit ist kein menschlicher Wesenszug.

Das Ende der moralischen Autorität

Einige Kommentartoren betonen nun, Grass' literarisches Oeuvre müsse neu bewertet werden. Das ist jedoch nicht zutreffend. Die Offenbarung seiner menschlichen Schwäche wird es kaum schaffen, seine monumentale literarische Leistung auch nur ein Stück zu erschüttern.

Leute, wie der kulturpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Wolfgang Börnsen, die meinen Grass solle den Nobelpreis "honorigerweise zurückgeben", sind einfach nicht in der Lage, den Schriftsteller Günter Grass, den Moralisten Günter Grass und den Vater Günter Grass, welcher seinen Kindern die SS-Vergangenheit verschwiegen hat, unabhängig von einander zu beurteilen. Der Fall des Moralisten ist nicht gleich der Fall des Schriftstellers.

Wenn alles gesagt und erledigt ist, sollte man sich daran erinnern, dass Grass es selbst war, der die eigene Scheinheiligkeit eingestand. Mit der Offenbarung seiner Geschichte, die seiner kommenden Autobiografie zweifellos hohe Verkaufszahlen bescheren wird, entschied sich Grass dafür, dass Wahrheit wichtiger ist als die Bequemlichkeit der Verschwiegenheit. Vielleicht war es das erste Mal, dass er nicht auf die Leute herabschaute.

Er hätte sich eher zu Sache äußern sollen, aber eine verspätete Wahrheit ist besser als gar keine Wahrheit.

Toma Tasovac ist Autor des englischen Teams von DW-WORLD.DE und ein Kenner der deutschen Literatur.