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Politik

Modellprojekt für Pädophile gerettet

Kay-Alexander Scholz
25. Oktober 2016

Pioniergeist zahlt sich aus. Als die Charité vor elf Jahren ein Hilfsangebot für Pädophile startete, war die Skepsis groß. Nun erhöht die Bundesregierung die Förderung und stellt einen entscheidenden Schritt in Aussicht.

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Berlin - Charite Hochhaus  (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Läuft alles nach Plan, dann werden in Deutschland Therapien für Pädophile in fünf Jahren von den Krankenkassen bezahlt. Damit würde die inzwischen weit verbreitete Ansicht unter Medizinern und Wissenschaftlern praktisch umgesetzt, wonach Pädophilie kein Verbrechen, sondern eine Diagnose ist, wie Klaus M. Beier, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité in Berlin, betonte.

Pädophilie betrifft Männer, die sich durch Kinder vor der Pubertät sexuell erregt fühlen - sie ist nicht mit Kindesmissbrauch gleichzusetzen, kann ihm aber vorausgehen.

Professor Beier ist ein Pionier auf seinem Gebiet. Im Jahr 2005 startete er das Projekt "Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld" an Deutschlands größtem Krankenhaus, der Charité in Berlin, das sich seither explizit an Täter oder potentielle Täter wendet. Beier baute ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Hilfsangebot für Pädophile auf, die nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Inzwischen ist darausdas bundesweite Netzwerk "Kein Täter werden" entstanden, das an elf Standorten aktiv ist und dem Beier vorsteht. Auch international machte dieses bisher einmalige Projekt Schlagzeilen. Es habe Anfragen aus Finnland, Großbritannien, Schweden, den USA, den Philippinen und Indien, berichtete Beier. Das Problem bestehe weltweit. Jeder 100. Mann habe statistisch gesehen eine pädophile Neigung.

Bessere Finanzierung

Seit 2008, also drei Jahre nach Projektstart, fördert das Bundesjustizministerium das Projekt. Nun, nach acht Jahren, muss diese Förderung eingestellt werden. So wollen es die deutschen Gesetze, die eine dauerhafte Finanzierung nicht vorsehen. Noch vor einigen Wochen drohte dem Projekt deshalb das Aus. In Berlin versprach dann der Senat eine Übergangsfinanzierung.

Nun kamen richtig gute Nachrichten. Das Bundesgesundheitsministerium übernimmt die weitere Finanzierung für fünf Jahre und stockt die Gelder stark auf, gab Lutz Stroppe, Staatssekretär im Gesundheitsministerium, in Berlin bekannt. Rund 1,4 Millionen bekam das Netzwerk bisher an öffentlicher Unterstützung. Nun werden es fünf Millionen jährlich sein. Beier und seinem Stellvertreter, Professor Uwe Hartmann von der Medizinischen Hochschule Hannover, waren die Freude und der Stolz über den Erfolg ihres Bemühens bei der eigens in Berlin einberufenen Pressekonferenz deutlich anzusehen. Die Bundesregierung wolle ein entsprechendes Gesetz noch in diesem Jahr verabschieden, so Stroppe. Gefördert werden sollen nicht nur die Therapien, sondern auch Forschung und Ausbildung, also alles das, was Beier und dem Netzwerk von Anfang an im Paket wichtig war.

Was haben die Mediziner bisher erforschen können?

Die "Täter" könnten in zwei Gruppen eingeteilt werden, wie in Berlin zu erfahren war: 40 Prozent hätten eine sexuelle pädophile Präferenzstörung. Die anderen 60 Prozent würden eher Ersatzhandlungen begehen - darunter Jugendliche, geistig Behinderte oder Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, berichtete Beier.

Pressekonferenz Kein Täter werden, Podiumsfoto unter anderem mit Klaus M. Beier (Foto: dpa)
Klaus M. Beier (l.), Initiator des Präventionsnetzwerks, auf der PressekonferenzBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

"Pädophilie ist nicht heilbar, sondern nur behandelbar", so Beier weiter. Und zwar als eine Besonderheit menschlicher Sexualität wie bei anderen sexuellen Minderheiten auch, die aber nicht erklärbar sei. Mit bildgebenden Verfahren lasse sich im Gehirn dieses Verlangen sogar sichtbar machen.

Therapie-Ziel: Verhaltenskontrolle

Die bisher praktizierte Therapie setzt bei Verhaltensänderung an. Bestimmte Risikofaktoren sollen minimiert werden. Wozu auch emotionale Vereinsamung zähle, so Beier. Vor allem aber sollten die Betroffenen dazu gebracht werden, sich keine Missbrauchsabbildungen - umgangssprachlich Kinderpornos genannt - anzuschauen.

Auch Medikamente würden eingesetzt, so genannte Testosteron-Dämpfer, die das sexuelle Verlangen steuern können. Die Pharma-Industrie sei noch sehr zurückhaltend auf diesem Gebiet, so Beier. Dabei würden sich die Mediziner Medikamente mit kurzfristiger Wirkung wünschen.

Bisher 7000 Personen erreicht

Die Therapie-Einrichtungen, viel wird im Internet geworben, sind darauf angewiesen, dass sich die Pädophilen von sich aus melden. Wohl auch deshalb sind die Zahlen noch relativ niedrig. Bundesweit 7000 Personen hätten den Kontakt zum Netzwerk aufgenommen, berichtete Hartmann. Davon hätten 2300 Personen auch den Schritt in die Beratungsstelle gewagt. 1300 von ihnen konnte ein Therapie-Angebot gemacht werden. 659 Betroffene hätten sich dann auch für diesen Schritt entschieden. 251 hätten eine Therapie bereits abgeschlossen; 265 würden sich noch einer befinden.

Viele Betroffene wünschten, dass das Verlangen ganz und gar aus dem Kopf verschwinde. Das werde nicht klappen, sage er den Patienten dann immer, so Hartmann über die Möglichkeiten der Mediziner.

Professor Uwe Hartmann und Vertreter der Ministerien für Justiz und Gesundheit (Foto: dpa)
Freude über gesicherte Finanzen: Professor Uwe Hartmann umgeben von Vertretern der alten und neuen Geldgeber, der Ministerien für Justiz (links) und Gesundheit (rechts)Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

An der Berliner Charité würden pro Jahr 100 Hilfesuchende vorstellig, berichtete Beier. Etwas mehr als die Hälfte könne auch eine Therapie beginnen. Die meisten "hätten schon Übergriffe getätigt". Im Schnitt seien die Männer 37 Jahre alt, drei Viertel sind berufstätig, 40 Prozent lebten in einer Beziehung. Erste Langzeit-Studien seien vielversprechend, so Beier. In einer Untersuchungsgruppe hätte es fünf Jahre nach Therapie-Ende gar keine Übergriffe mehr gegeben.

Gesamtgesellschaftliches Problem

Neben den Therapien ist Grundlagenforschung Ziel des Netzwerks. Der schon jetzt gewonnene Datenpool sei weltweit einmalig, betonte Hartmann. Daraus ließen sich Qualitätsstandards entwickeln für die Diagnostik, die Therapien und die Ausbildung. Mit dem nun größeren Etat sollen unter anderem weitere Stellen in Deutschland eingerichtet und mehr Nachsorge-Möglichkeiten finanziert werden.

Das Thema Kindesmissbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Neun Prozent der Mädchen und drei Prozent der Jungen würden Opfer, schätzt Beier. Sie hätten oft ein Leben lang darunter zu leiden oder würden krank.