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Linz hat den Geräuschen den Kampf angesagt

28. Dezember 2009

Das österreichische Linz hat sich ein Ziel gesetzt: die Eindämmung von Lärm durch Verkehr und Gewerbe. Bei Schulbauten, Fassadengestaltung oder Straßenbau sollen akustische Belange von Anfang an berücksichtigt werden.

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Symbolbild in schwarz-weiß: Eine junge Frau hält sich in einem Supermarkt die Ohren zu (Foto: Linz09)
Keine Chance, der Dauer-Beschallung zu entkommen?Bild: Linz09

An die 30.000 Menschen kamen in den vergangenen zwölf Monaten ins Linzer Centralkino - obwohl hier längst keine Filme mehr gezeigt werden. Die Besucher fanden in dem leer geräumten und dann mit Sitzkissen ausgelegten Kinosaal dafür den "Ruhepol". "Im hinteren Bereich herrscht absolute Stille", sagt Betreuerin Claudia Henze. "Hier darf man nicht einmal flüstern, muss die Schuhe ausziehen und die Handys abschalten."

Vom akustischen zum politischen Raum

In einem Kinosaal liegen Sitzsäcke (Foto: Linz09)
Ein Bild der Ruhe: das Centralkino in LinzBild: Linz09

Der "Ruhepol" ist Teil des Konzepts "Hörstadt", das "Linz09 - Kulturhauptstadt Europa", entwickelt hat. Es geht darum, den akustischen Raum zum politischen Raum zu machen, gemäß den ersten beiden Punkten der eigens ins Leben gerufenen Linzer Charta: "Der akustische Raum ist Gemeingut. Er gehört allen. Die Gestaltung des akustischen Raums ist Recht und Sache aller Menschen. Die Mitwirkung daran bedarf der Chancengleichheit."

Mit aus der Taufe gehoben hat die Charta Peter Androsch, künstlerischer Leiter im Bereich Musik von "Linz09". "Unsere Ohren können wir nicht abschalten, sie sind permanenten Attacken ausgesetzt", sagt Androsch. Um uns herum herrsche das Faustrecht des Stärkeren, besser: des Lauteren. Androsch listet die Folgen auf: Hintergrundgeräusche verschlechterten die Leistungen von Schülern um zehn bis 25 Prozent und begünstigten Hyperaktivität. 4000 Herzinfarkte jährlich gehen allein in Deutschland auf das Konto von Verkehrslärm. Lärmschwerhörigkeit sei die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit.

Hört ihr schlecht?

Damit nicht genug: "Ein Sechstel der europäischen Bevölkerung ist offiziell hörbehindert, und die Dunkelziffer liegt bei einem Viertel. Das sind in der EU ungefähr 100 Millionen Menschen. Klar, dass das Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat."

Androsch weiß, dass eine Reduzierung des Umgebungslärms um die Hälfte, wie es eine Machbarkeitsstudie in Linz gerade untersucht hat, utopisch ist. Nur ein Beispiel: Wer den Verkehrslärm in einem typischen europäischen Ballungsraum wie Linz mit einer halben Million Einwohnern halbieren will, müsste das Verkehrsaufkommen um 90 Prozent verringern.

Kampf der "Zwangsbeschallung"

Ein Kaufhaus von außen mit großer Werbetafel (Foto: Linz09)
Eine Tortur für die Ohren: die Musikschleifen in EinkaufspassagenBild: Linz09

Um ein Zeichen zu setzen hat Linz in einem ersten Schritt alle öffentlichen Räume in städtischem Besitz zu beschallungsfreien Zonen erklärt. Die Handelskette "Spar" hat auf die Beschallung ihrer Einkaufsmärkte verzichtet. Langfristig geht es darum, die akustische Dimension von Anfang an in die Stadtplanung einzubinden statt hinterher teure Notlösungen zu finden. Notlösungen wie "Flüster"-Asphalt auf den Straßen, dreifach verglaste Fenster oder Lärmschutzwände.

Zu Androschs Konzept gehört auch die Verleihung der wenig schmeichelhaften Auszeichnung "Zwangsbeschaller des Jahres". 2008 wurde eine Billig-Boutiquenkette gekürt, 2009 die Beschallung von Geschäften, Passagen und Plätzen durch Endlosschleifen mit Weihnachtsmusik. "Die Geräuschkulisse, die in Einkaufszentren herrscht, wäre ohne Musik unerträglich", gibt Androsch zu. "Stellen Sie sich einmal neben eine Ansammlung von Kühlaggregaten in den Supermärkten, das ist unerträglich. Dann haben Sie noch Aufzugssysteme und Kassensysteme: Das ist eine Kakophonie, die den Menschen krank macht. Um das den Menschen nicht bewusst zu machen, wird darüber eine Tapete gekleistert, das ist die Hintergrundmusik."

Die von Peter Androsch mit verfasste Charta strahlt inzwischen auch international aus: Die süddeutsche Stadt Erlangen hat sie bereits übernommen; Hamburg und das belgische Lüttich denken bereits darüber nach.

Autor: Alexander Musik
Redaktion: Mareike Röwekamp