1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

(Hans-Bernd Zirkel) 9. Juni 2002

Die Antisemitismus-Debatte und die FDP/ Der Wahlparteitag der SPD/ Der Bundespräsident in Prag

https://p.dw.com/p/2Oqp

Die Antisemitismus-Debatte und die Lage der deutschen Liberalen, der Wahlparteitag der Sozialdemokraten und der Besuch von Bundespräsident Johannes Rau in Tschechien: Das waren in dieser Woche die Themen, die auch in der ausländischen Presse kommentiert wurden.

Zum Machtkampf innerhalb der Freien Demokraten nach der vom FDP-Vize Jürgen Möllemann ausgelösten Antisemitismusdebatte meinte der Schweizer TAGES-ANZEIGER aus Zürich:

"Entschieden ist der Machtkampf bei den Liberalen durch Möllemanns Einlenken noch lange nicht. Und gewiss wird die FDP auch nicht zum klassischen Liberalismus zurückkehren. Möllemann, schon immer ein Enfant terrible der deutschen Politik, gab keineswegs das Bild eines geknickten Verlierers ab - im Gegenteil, er zündelte weiter. In der FDP wird der hemmungslose Opportunist gebraucht, solange die Partei an ihrem Wahlziel von 18 Prozent festhält. Mit klassisch liberaler Klientel ist das nicht zu erreichen und auch nicht mit den Anhängern der Spaßgesellschaft, die den Fallschirmspringer Möllemann und das blau-gelbe Guidomobil lustig finden."

Die liberale österreichische Zeitung DER STANDARD kommentierte die Politik des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden so:

"Möllemann schickt sich an, jene Erwartungen konservativ gesinnter Deutscher zu erfüllen, die Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat der Union bisher nicht bedient hat. Durch Stoibers oft krampfhaftes Bemühen um die Wähler in der Mitte fühlen sich die weiter rechts stehenden vernachlässigt. Trotz aller Parallelen ist Möllemann aber kein nordrhein-westfälischer Stoiber oder deutscher Haider. Er kopiert jedoch die Muster, schaut sich - aus seiner Sicht - Erfolgsmodelle ab. Am Wahltag wird sich zeigen, ob der Versuch, die FDP durch Populismus populär zu machen, gelungen ist."

Als "liberale Katastrophe" bezeichnete der Kommentator der konservativen österreichische Zeitung DIE PRESSE die Auseinandersetzungen innerhalb der FDP und resümierte:

" ... für Deutschlands Wähler hat dieses Unwetter mit Blitz und Donner eine recht nützliche Erkenntnis gebracht: Die Führungsqualitäten des so hochgelobten Westerwelle dürften äußerst bescheiden sein. So einen auch nur als Vizekanzler ans Regierungsruder zu lassen, scheint denn doch riskant."

Das niederländische unabhängige ALGEMEEN DAGBLAD ging auf die Antisemitismus-Debatte ein und stellte fest:

"Deutschland ist mehr oder weniger Gefangener seiner eigenen Geschichte. Es trägt große Verantwortlichkeit für den israelisch- palästinensischen Konflikt, denn ohne Hitler und ohne den Holocaust wäre höchstwahrscheinlich kein jüdischer Staat gegründet worden. (...) Die Debatte hebt sich krass ab von anderen Diskussionen über die deutsche Geschichte und damit auch über die deutsche Identität, die in immer kürzeren Abständen aufeinander folgen. Die Diskussionen machen deutlich, dass sich der deutsche Riese, die wichtigste Industrienation Europas, auf der Suche befindet und verwundbar ist. Patriotische Gefühle kennen unsere Nachbarn nur, wenn die Nationalmannschaft gewinnt. Ein Nationalgefühl wie in den Niederlanden oder in den USA ist ihnen fremd."

Das LUXEMBURGER WORT fand, die deutsche Politik bewege sich derzeit insgesamt auf einem unwürdigen Niveau:

"Nachdem Kanzler Schröder den Bundesrat durch wiederholtes Schachern um Stimmen bei Voten über Steuer- und Rentenreform schon nachhaltig beschädigte, Bundesratspräsident Wowereit bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz mit einer umstrittenen Reglementsauslegung nachlegte und schließlich die Opposition nach Erreichen der Stimmenmehrheit die Institution zur wahltaktischen Klitsche abwertete, ist der Flurschaden unübersehbar. Gibt es in Deutschland keine wichtigeren Themen? Arbeitslosigkeit, ein Reformstau, den auch die dazu angetretene Regierung Schröder nicht auflöst, sozialer Sprengstoff in der Einwanderungsdebatte, Konjunkturflaute, das Stichwort Schlusslicht Europas und eine noch nicht ausgebrochene Sicherheitsdebatte, die der jetzige Wahlkampf wohl aufwühlen wird? (...) Den deutschen Wähler kann das Hampeln auf der Politbühne nur verdrießen."

Ein weiteres Kommentarthema war der Wahlparteitag der SPD am vergangenen Wochenende. Die italienische Zeitung CORRIERE DELLA SERA aus Mailand zeigte sich vom Auftritt des Bundeskanzlers Gerhard beeindruckt:

"Das hat er in vier Jahren noch nie getan. Aber am Sonntag hat er sich endlich das Brioni-Jacket ausgezogen und sich in Hemdsärmeln und roter Krawatte auf der Rednertribüne präsentiert. Gerhard Schröder ist zurück. Vor den sozialdemokratischen Funktionären hat der Mann, der sie nach 16 Jahren Kohl-Herrschaft zurück an die Macht gebracht hat, den Anzug des Kanzlers abgelegt und die Kleider des Parteisoldaten angelegt, der in die Schlacht zieht. Seine Rede auf dem SPD-Sonderparteitag hat wahrscheinlich eine Wende im deutschen Wahlkampf markiert."

Ganz anders der Kommentar im österreichischen Massenblatt KURIER:

"Mutlosigkeit, Lähmung, kein Schwung. Das ist der Zustand der deutschen Sozialdemokratie 16 Wochen vor der Wahl. Und es ist der Zustand Deutschlands. (...) Ja, Rotgrün hat Reformen versucht (bei Steuern und Renten, weniger Neuverschuldung), aber die waren so zaghaft, dass sie nicht einmal als Signale für mehr Eigenverantwortung des Bürgers taugen. Das größte Land Europas steht heute schlechter da als jedes andere EU-Kernland. Den Grund kennen alle: Die Wirtschaft wird seit Jahrzehnten - auch denen unter der Union - systematisch vom Sozialstaat überfordert. Der finanziert dies mit immer neuen Schulden. Und der teure Wiederaufbau der DDR hat statt Umdenken nur noch mehr Larmoyanz gebracht. Er, der Kanzler, hätte aber Weichen stellen müssen für den Aufbruch zu mehr Eigenverantwortung, Leistung und Ehrlichkeit. Er hat es einmal versucht: Den Abgang des Umverteilungsapostels Oscar Lafontaine nutzte er für sein Schröder-Blair-Papier. Nach dem Aufschrei der Parteilinken resignierte er aber sofort. Seither hat Schröder nichts mehr getan, um der SPD eine Perspektive zu geben."

Ganz allgemein stellte die britische Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES zum Wahlkampf in Deutschland fest:

"Im langen (...) Bundestagswahlkampf geschieht etwas Seltsames: Jede der beiden großen Volksparteien versucht, die Kleider der anderen zu stehlen. Die Gefahr ist, dass die Wähler am Ende verwirrt sein werden, sich einem europaweiten Trend anschließen und extremere Parteien wählen. Die regierende SPD von Gerhard Schröder versucht, sich als Musterbeispiel für Haushaltsdisziplin zu präsentieren - konträr zu ihrem früheren, Ausgaben freudigen Image. Die Hauptoppositionspartei, geführt von Edmund Stoiber, dem bayerischen Ministerpräsidenten, verspricht Steuersenkungen (...), ohne zu sagen, wie diese finanziert werden können. Gleichzeitig versichert Stoiber, dass er keine radikalen Reformen für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt plant, aus Angst, Wähler aus der Mitte abzuschrecken. Das Ergebnis könnte eine Wählerschaft sein, die sich über die Unterschiede zwischen Rechts und Links genauso sehr im Unklaren ist wie bei der Präsidentenwahl in Frankreich."

Zum Schluss noch zwei tchechische Kommentare zum Arbeitsbesuch von Bundespräsident Johannes Rau bei seinem tchechischen Kollegen Vaclav Havel in Prag. Das Treffen fand vor dem Hintergrund des Streits um die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Die Zeitung HOSPODARSKE NOVINY beurteilte den Besuch verhalten positiv:

"Von Raus Reise nach Prag ließ sich zu Recht gerade in der Vorwahlzeit wenig erwarten. Trotzdem war der Besuch bemerkenswert - er hat angedeutet, dass sich inmitten aufgeregter Äußerungen noch Raum für eine Debatte ohne Vorurteile und Emotionen finden lässt. Die Reise des Bundespräsidenten und der konfliktfreie Ton der Gespräche mit Vaclav Havel berechtigen zur Aussicht, dass sich beide Seiten nach den Wahlen in Ruhe an einen Tisch setzen könnten. Das Treffen der Staatsoberhäupter hat die Tür zur Zukunft offen gehalten."

Die linksliberale Zeitung PRAVO aus Prag zog ein nüchternes Resümee:

"Das Präsidententreffen lässt sich - mit Verlaub - vielleicht in einem Satz zusammenfassen: Die Zusammenkunft von Rau und Havel hat den deutsch-tschechischen Beziehungen nicht geschadet. Wenn es das gemeinsame Verhältnis zum Besseren verschoben haben sollte, dann allenfalls um einige Zentimeter. Das würde nicht etwa daran liegen, dass beide keinen guten Willen hätten - Havel und Rau bewegen sich nicht auf der Ebene des politischen Tagesgeschehens, und das schränkt ihren Einfluss eben ein."