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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Siegfried Scheithauer1. Oktober 2005

Machtkampf in Deutschland - Große Koalition? / Streit um EU-Beitritt der Türkei / Nach den Parlamentswahlen in Polen

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"Schröders Partei zweifelt an seiner Zukunft", "Große Koalition in Deutschland wahrscheinlich", "Vernunftehe statt Liebesheirat",

so, oder so ähnlich, titelt die ausländische Presse ihre Kommentare zum anhaltenden Kampf um die Regierungsmacht in der Bundesrepublik. Das Berliner Sondieren zwischen SPD und Union bleibt das dominierende deutsche Thema der internationalen Meinungsmacher.

So beobachtet die NEW YORK TIMES:

"Es gibt wachsenden Optimismus, dass ein solches Bündnis zwischen den großen Parteien doch zustande kommen könnte, im Gegensatz zu ersten Bedenken, dass es zu völligem Stillstand führen und schließlich an seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen werde, mit notwendigen Neuwahlen. (...) Kanzlerkandidatin Angela Merkel war im Wahlkampf zwar für freie Marktwirtschaft eingetreten. Analysten stellen aber fest, dass ihre Partei den Sozialdemokraten ähnelt in ihrer Treue zum deutschen Konzept sozialer Gerechtigkeit in der Wirtschaft. In einigen der schwierigsten Fragen wie der Arbeitsmarktreform haben beide schon zusammengearbeitet."

Die Pariser Wirtschaftszeitung LES ECHOS arbeitet hingegen die ideologischen Gegensätze heraus:

"Die Konservativen sind bereit, die Sozialpartnerschaft infrage zu stellen, die seit dem Zweiten Weltkrieg das Markenzeichen des Landes ist. Dagegen wollen die Sozialisten von keiner Reform der Mitbestimmung hören und wollen auch nicht den Kündigungsschutz und die Branchentarifverträge antasten. Die großen Gewerkschaften wachen darüber. Wenn die Führer der Konservativen wirklich eine Große Koalition wollen, dann werden sie in der Sozial- und Steuerpolitik, über die in den vergangenen Wochen so viel geredet wurde, viel Wasser in ihren Wein gießen müssen."

Der TAGES-ANZEIGER aus der Schweiz bringt es auf den Nenner:

"Deutschland kann reformiert werden, aber nicht nach amerikanischem oder englischem Vorbild, schon gar nicht nach der reinen marktwirtschaftlichen Lehre, sondern nur als Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft."

Das dänische Blatt JYLLANDS-POSTEN versucht eine gesamtdeutsche Einordnung und schreibt:

"Man kann die ganze Misere als sehr deutsche Vorstellung ansehen. Sie ist letztlich Ausfluss der 15 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch zu leistenden Kraftanstrengung in historischem Ausmaß. Der kommunistische Bankrottladen DDR nimmt späte Rache an dem Gesellschaftssystem, das sich moralisch und wirtschaftlich als so überlegen erwiesen hat. (...) Vielleicht ist es nun ganz passend, dass ausgerechnet die Deutschen die ironische Formulierung von Bert Brecht widerlegen müssen, wonach es an der Zeit sei, dass die Politiker sich ein neues Volk wählen."

Aufmerksam beleuchtet werden das Festhalten von Kanzler Gerhard Schröder am Regierungsamt und die Machtansprüche von CDU-Chefin Merkel. So kommt die Berlin-Korrespondentin der INTERNATIONAL HERALD TRIBUNE zu der Einschätzung:

"Deutschlands Sozialdemokraten stellen die politische Zukunft ihres eigenen Kanzlers in Zweifel durch einige Parteiführer, die meinen, es sei nicht mehr eine Frage o b Schröder zurücktrete, sondern nur noch w a n n. (...) Merkel, deren Zukunft nach dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer Partei seit Jahrzehnten unsicher schien, zeigt sich wieder entschlossen, Kanzlerin zu werden. Sie wäre die erste Frau in dieser Position und zudem eine, die im kommunistischen Ostdeutschland aufgewachsen ist".

Die britische Zeitung DAILY TELEGRAPH hat schon einmal den Nachruf skizziert:

"Es gibt Anzeichen, dass Schröder die Macht entgleitet. Auch seine früheren Koalitionspartner, die Grünen, haben Schröder geraten, sein Amt aufzugeben. In seinen sieben Jahren als Kanzler hat Schröder nur bescheidene Reformen eingeführt, und er hat sein Wahlversprechen hinsichtlich der Arbeitslosigkeit nicht gehalten. Er ist ein Mann von gestern, und je eher er das Kanzleramt verlässt, desto besser."

Die dänische Tageszeitung POLITIKEN wagt einen Blick in die deutsche Seelenlage:

"Die Wähler haben salomonisch den reformfeindlichen linken Flügel genauso gestärkt wie die auf Reformen erpichte liberale FDP. Das bedeutet, dass das Reformtempo nur so hoch sein wird, wie es die SPD verkraften kann. Dies dürfte keine demokratische Katastrophe sein. Vergleiche mit der Weimarer Republik, als den demokratischen Parteien von Beginn an Mehrheiten fehlten, sind völlig fehl am Platz."

Die Leitartikler der internationalen Printmedien beschäftigten sich auch intensiv mit dem Verhältnis Polens und der Türkei zur Europäischen Union und umgekehrt. Zunächst zum eskalierten Streit innerhalb der EU um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei:

Die britische Zeitung THE GUARDIAN kommentiert:

"Die Türkei, die früher einmal von Umsturzversuchen des Militärs, Folter und Super-Inflation geprägt war, hat die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Auch wenn die Umsetzung der neuen Gesetze noch nicht überall in den kurdischen Gebieten vollständig gelungen ist, so hat doch schon allein die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft die Reformen stark vorangetrieben. (...) Die säkulare Muslim-Demokratie der Türkei hat deutlich gemacht, dass sie bereit ist für ein tolerantes, multikulturelles Europa. Jetzt sollte man den entscheidenden Schritt tun und mit den Gesprächen beginnen." Der INDÉPENDANT DU MIDI aus Frankreich fasst die psychologische Grundstimmung zusammen:

"Die Ablehnung, auf die die Kandidatur der Türkei stößt, zeigt die Grenzen einer Öffnung der EU auf - die ein Heer von billigen Arbeitskräften auf einen Arbeitsmarkt locken könnte, der ohnehin schon in der Krise ist. Europa hat vor sich selbst Angst, und deshalb hat es auch Angst vor den anderen. Europa wird zu einer Festung. Nur der Kampf gegen die Armut kann das Einwanderungsproblem lösen. Und dies ignorieren die reichen Länder beharrlich, trotz aller Sonntagsreden, die von Gipfel zu Gipfel wiederholt werden."

Das österreichische Blatt DIE PRESSE setzt sich mit dem Widerstand der eigenen Regierung auseinander, die alternativ zu einem EU-Beitritt auch über eine bloße Partnerschaft mit der Türkei verhandeln wollte:

"Angesichts dieser heiklen Situation, und da so viel auf dem Spiel steht, ist völlig unverständlich, warum die österreichische Regierung bis Freitag nicht selbst einen Kompromisstext vorgelegt hat. Im Bundeskanzleramt hieß es dazu nur, das sei nun allein die Aufgabe Großbritanniens. So stolz wir also auf die Regierung sein können, dass sie dieser Tage Mut beweist - ja dass sie nicht davor zurückschreckt, sich einmal gegen die geballte Macht der EU-Partner zu stellen -, so muss doch ärgern, wie offensichtlich dilettantisch dies geschieht."

Die Parlamentswahlen in Polen haben Lob und Anerkennung, aber auch Sorgen ausgelöst.

Die britische Zeitung INDEPENDENT gibt sich vorsichtig optimistisch:

"In Polen sind die Ex-Kommunisten am Ende. Aber wie lange die Wähler dort ihr Vertrauen in die Parteien des rechten Flügels setzen, bleibt abzuwarten. Die wahrscheinliche Koalition der nationalkonservativen 'Partei Recht und Gerechtigkeit' und der liberalkonservativen Bürgerplattform ist auch nicht gerade ein Traum-Team. (...) Polen ist bei weitem das größte neue Mitgliedsland der EU, und es ist wichtig, dass das Land mit gutem Beispiel vorangeht. Die Wahlen sind ein Hoffnungssignal für das gesamte Osteuropa." Die Tageszeitung NEPSZABADSAG aus Ungarn meint:

"Nachdem die Wähler in Polen die eine Elite abgewählt haben, erhoffen sie sich von der anderen eine Lösung ihrer Probleme. (...) Doch gelangte - entgegen anders lautenden Erwartungen - der europa- feindliche Populismus nicht in die Nähe der Macht. Die Rechte hat gesiegt, doch die bescheidene Wahlbeteiligung gab ihren radikalsten Plänen keine überwältigende gesellschaftliche Unterstützung".

Die russische Zeitung KOMMERSANT fürchtet weitreichende Konsequenzen:

"Polen driftet nach rechts ab. Die Zwillingsbrüder Jaroslaw und Lech Kaczynski wollen sich wie ein Mann der deutsch-russischen Gaspipeline durch die Ostsee in den Weg stellen. Die beiden siegreichen konservativen Parteien sind berüchtigt für ihre aggressiv anti-russische Haltung. Und bei der kommenden Präsidentenwahl deutet alles darauf hin, dass der Sieger ebenfalls Moskau keine freundschaftlichen Gefühle entgegenbringen wird."