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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Gerhard M. Friese9. Februar 2004

Rücktritt Schröders vom Parteivorsitz / Freispruch für Mzoudi

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Die überraschende Aufgabe des SPD-Parteivorsitzes durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Freispruch für den unter Terrorverdacht angeklagten Abdelghani Mzoudi waren für die ausländische Presse in dieser Woche die interessantesten Themen aus Deutschland.

Nach dem Rücktritt Schröders vom Parteivorsitz fragt der Züricher TAGES-ANZEIGER:

"War dies nun der berühmte Befreiungsschlag? Oder, wie die Opposition feixt, 'der Anfang vom Ende'? Vermutlich weder das eine noch das andere, sondern ein Akt der Verzweiflung. Er trägt zwar wohl etwas Ruhe und Zuversicht in die deprimierte SPD, doch erschüttertes Vertrauen in der Bevölkerung lässt sich damit nicht zwangsläufig zurückgewinnen."

Die britische Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES sprach von einer klugen Entscheidung:

"Der Schritt ist radikal und ohne Beispiel. Indem er zurücktritt, gibt Schröder zu, dass es außerhalb seiner Möglichkeiten liegt, die Vertrauenskrise in seiner Partei zu bewältigen. Er nimmt auch ein persönliches Risiko in Kauf, indem er eine Möglichkeit schafft, seine Autorität zu einem späteren Zeitpunkt herauszufordern. Doch trotz aller Risiken könnte sich der Schritt als eine kluge Entscheidung herausstellen... Mit Franz Müntefering wird der Kanzler einen engen Verbündeten an der SPD-Spitze haben - und einen, der weiterhin das Vertrauen der Linken genießt."

Für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ist der Rücktritt nur ein weiterer Schritt in das Chaos:

"Und nun wirft Schröder, Lafontaine nicht unähnlich, in einem Eklat sondergleichen sein Parteiamt hin. Das ist nichts anderes als eine Verzweiflungstat. In der Partei mag vielleicht wieder Ruhe einkehren, denn der neue Vorsitzende Franz Müntefering ist ein glänzender Organisator und Troubleshooter und dürfte Schröder als Bundeskanzler vorderhand nicht ins Gehege kommen. Aber draußen? Was signalisiert ein so hektischer Schritt in einer Zeit, in der die deutsche Regierungspolitik ohnehin vom Chaos geprägt ist?"

Auch für die italienische Zeitung CORRIERE DELLA SERA ist der Rücktritt eine Verzweiflungstat:

"Es ist wahrscheinlich der letzte verzweifelte Versuch Schröders, die Sozialdemokratische Partei wieder zu festigen, ihr wieder das Vertrauen und die Fähigkeit zur Mobilisierung zu geben, und dies alles am Vorabend einer Zeit der Wahlen, die auch für das Überleben seiner rot-grünen Regierung in Berlin entscheidend werden könnte. Ob allerdings dies alles ausreicht, damit es wieder aufwärts geht, wird sich noch zeigen müssen."

Die dänische Zeitung JYLLANDS-POSTEN sieht Schröder und die SPD ratlos:

"Retten, was zu retten ist. Darin liegt der eigentliche Beweggrund für die Entscheidung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, den Posten als Parteivorsitzender der SPD aufzugeben. Die SPD liegt bei Umfragen so tief unten, wie nie zuvor in der Nachkriegszeit... Vor dieser Katastrophe meint selbst ein eigenmächtiger Kanzler, nicht die Augen verschließen zu können... Aber die Krise handelt nicht von Schröder. Sie handelt von der sozialdemokratischen Ideologie und ihren Verwaltern, die sich weigern, im 21. Jahrhundert anzukommen. Ein Wechsel an der SPD-Spitze ändert nichts an sich. Er bestärkt nur in allerhöchstem Maß den Eindruck totaler Ratlosigkeit."

Der Kommentator der römischen Zeitung LA REPUBBLICA schreibt von einem gescheiterten Experiment:

"Die Krise des deutschen 'dritten Weges' geht jetzt in Flammen auf. Angesichts des freien Falls in den Umfragen, bedroht durch den Aufstand der Basis und der Gewerkschaften gegen die Gesundheits- und Sozialreform hat Schröder überraschend seinen Rückzug vom Vorsitz der SPD angekündigt. Schröder versucht, seine Regierung zu retten, indem er sich von der Last der Führung einer Partei befreit, die nicht mehr weiß, wohin er gehen will."

Zynisch und einseitig auf deutsche Interessen ausgerichtet sei Schröders Politik, meint die dänische BERLINGSKE TIDENDE und fordert dennoch Unterstützung für den Bundeskanzler:

"Aus dänischer Sicht ist Schröder nicht nur ein opportunistischer deutscher Kanzler, sondern direkt gefährlich für europäische und dänische Interessen sowie die Wirtschaft. Da aber keine Aussicht auf Neuwahlen in Deutschland vor 2006 besteht, ist Unterstützung für die wirtschaftliche Reformen immer noch die beste aller Möglichkeiten."

Die Londoner TIMES wagt einen Vergleich mit dem britischen Premierminister Tony Blair:

"Blair hatte die alten Dogmen seiner Labour-Partei über Bord geworfen, bevor er sich zur Wahl stellte. Schröder dagegen erbte eine SPD mit einer seit den 50er Jahren unveränderten Ideologie und glaubte, sie nach der Machtübernahme modernisieren zu können. Dies hat sich für Schröder als eine fast unlösbare Aufgabe herausgestellt, die ihn nahezu seine Koalition, seine Führungsposition und seine politische Zukunft gekostet hat. Gestern hat er sein Versagen eingesehen."

Für die französische Zeitung LIBERATION ist Schröder der Sündenbock:

"Mit der Annahme der Agenda 2010 hatten die Delegierten des SPD-Sonderparteitages Schröder mit großer Mehrheit den Eindruck vermittelt, dass er endlich beliebt geworden sei. Doch die jüngsten Umfragen, die in einem Jahr mit 14 Regionalwahlen der SPD 24 Prozent und der Opposition doppelt so viel Wählerstimmen zusprechen, haben den Protest gegen den Mann wieder aufleben lassen, der von seinen Kritikern 'Genosse der Bosse' genannt wird."

Und der Pariser FIGARO meint:

"Diese mit Trommelwirbel betriebene Reformpolitik hat die Arbeitgeber auf die Seite des Kanzlers gebracht, aber die traditionell mit den Sozialdemokraten verbündeten Gewerkschaften knirschen mit den Zähnen. Im Ausland wurden die Reformen des Kanzlers im allgemeinen begrüßt, vor allem bei den Rechtsparteien. Seine G-8-Partner haben ihm beim Beschäftigungsgipfel in Stuttgart im Dezember zugestimmt. Doch den Deutschen reicht's jetzt."

Ähnlich urteilt die BASELER ZEITUNG:

"Für das 'Vermittlungsproblem', das Bundeskanzler Gehard Schröder gestern als Ursache für die Krise von Regierung und Partei benannt hat, trägt der Kanzler freilich selbst ein gerüttelt Maß an Verantwortung. Denn zu oft hat er die Strategie gewechselt, das Ruder herumgeworfen und in einem Gewaltakt Reformen durchgepeitscht, denen oft die nötige Sorgfalt fehlte. Entsprechend war das Chaos, zum Beispiel bei der Gesundheitsreform. Schröders Lavieren haben die Wähler satt - und das könnte den Kanzler tatsächlich die Regierungsmacht kosten."

Dagegen sieht die österreichische Tageszeitung DER STANDARD neue Perspektiven für die SPD:

"Auf den ersten Blick ist die Lösung elegant: Müntefering, der anders als Schröder in der Partei verankert ist, kann angesichts desaströser Umfragewerte und Massenaustritte verunsicherten Genossen Wärme und Hoffnung geben. Denn dies vermissten viele seit dem Abgang Oskar Lafontaines als Parteichef. Schröder war, allen Beteuerungen zum Trotz, die Partei nie ein Anliegen, sondern Mittel zum Zweck, Kanzler zu werden. Mit diesem Schritt ermöglicht Schröder der SPD, in der in der vergangenen Woche massive Kritik an ihm laut wurde, neue Perspektiven. Gerade im Superwahljahr mit 14 Urnengängen kommt es auf Geschlossenheit an."

Zum Schluss die SALZBURGER NACHRICHTEN zum Freispruch des mutmaßlichen Unterstützers islamischer Terroristen, Abdelghani Mzoudi:

"Die Amerikaner werden eine Erklärung für diesen Freispruch einfordern. Sie werden fragen, wieso ein deutsches Gericht der Entlastungsaussage des mutmaßlichen Cheflogistikers der Terror-Anschläge, Ramzi Binalshibh - sofern sie wirklich von ihm stammt -, derartigen Glauben schenkt. Man wird dann zu Recht antworten: Weil alle Rechtshilfeersuchen von den US-Behörden abgeblockt wurden. Weil man nicht einmal zur Übergabe der Verhörprotokolle bereit war. Weil bemerkenswert vieles im Dunkeln blieb, unter dem Signum "nationaler Interessen". Und weil es nach dem Recht in Europa eben keinen Schuldspruch ohne Nachweis der Schuld geben kann. Das ist ein Erfolg für das rechtsstaatliche Prinzip - wenn auch nicht unbedingt ein Tag zur Freude für den Rechtsstaat Deutschland, dessen Bürger die Interessen an ihrer Sicherheit wohl höher einschätzen als einen Freispruch unter diesen Umständen."