Inklusion vorgemacht
19. Juni 2010Ein buntes Bild: Rollstuhlfahrer, Referenten mit Anzug und Laptop, junge Leute mit Down-Syndrom, Eltern und Ehrenamtliche als Betreuer an ihrer Seite. Der am Samstag (19.06.2010) zu Ende gegangene 15. Weltkongress von "Inclusion International" lebte Integration vor: Von den 2300 Besuchern hatten mehr als 700 selbst eine Behinderung.
An den Workshops und Vorträgen sollten alle gleichberechtigt teilnehmen können. Darum gab es grüne, gelbe und rote Karten: Wenn ein Referent zu schnell oder kompliziert vortrug, bekam er zum Beispiel "rot" gezeigt. Anders als beim Fußball musste er dann nicht vom Platz, aber erst einmal eine Pause einlegen.
"Vom Miteinander lernen alle"
So gleichberechtigt sollte es auch im Alltag zugehen, wünschen sich viele der Anwesenden. Und hoffen dabei auf die 2006 beschlossene UN-Behindertenrechtskonvention. Die Unterzeichner-Länder wie Deutschland verpflichten sich, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen - eine Verpflichtung, die der Realität weit vorauseilt. Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Bildung: Inklusion heißt hier, dass beeinträchtigte Kinder nicht etwa mit Hilfe von Sonderschulen irgendwie ins System integriert werden. Vielmehr besuchen behinderte und nicht behinderte Kinder die gleiche Schule. "Davon profitieren beide Seiten", findet Petra Hilbert, die aus Remscheid angereist ist. Die 50-Jährige ist Contergan-geschädigt, konnte aber eine reguläre Realschule besuchen – ihre Eltern hatten dafür gekämpft.
Sie habe damit nur gute Erfahrungen gemacht, erzählt sie – "und nicht nur ich". Vor zwei Monaten habe sie sich bei einem Klassentreffen mit ehemaligen Mitschülern über das Thema Inklusion unterhalten. "Und wir sind alle, auch die Nicht-Behinderten, der Meinung gewesen, dass wir von dem Miteinander viel fürs Leben gelernt haben." Sie habe von den Mitschülern gelernt. "Und die wiederum haben durch mich eine ganz andere Sicht auf behinderte Menschen bekommen."
"Sanktionsmöglichkeiten haben wir nicht"
Mit der UN-Konvention wurde die Frage der Gleichstellung behinderter Menschen zu einer Menschenrechtsfrage - ein Erfolg. Doch wer kontrolliert eigentlich, ob den Absichtserklärungen der Staaten auch Taten folgen? In Deutschland beobachtet Valentin Aichele die Umsetzung. Er leitet die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte. "Sanktionsmöglichkeiten haben wir zwar nicht", sagt Aichele. Aber es gebe trotzdem Mittel, Druck auf die politischen und anderen Entscheidungsträger auszuüben, etwa durch die Veröffentlichung von Schwachstellen bei der Umsetzung. "Außerdem muss Deutschland der UN in regelmäßigen Abständen Berichte über die Umsetzungserfolge und –schwierigkeiten vorlegen." Das schaffe auch auf internationaler Ebene Druck. "Der erste Bericht ist im schon im März 2011 fällig."
Aus 70 Ländern waren die Teilnehmer für den Kongress angereist, von Japan bis Brasilien, von Sambia bis Island. Doch so unterschiedlich die Herkunft, so ähnlich die Erfahrungen der Teilnehmer, wie sich beim Vortrag von Zdenka Petrovic aus Kroatien zeigte. 25 Jahre lebte sie in einem staatlichen Heim, machte dort schlimme Erfahrungen mit Entrechtung und Gewalt. "Sie haben uns mit Schimpfnamen gerufen, wir wurden oft bestraft, angebunden, uns wurden die Haare abgeschnitten, auch geschlagen wurden wir." Dass Zdenka Petrovic kein Einzelfall ist, zeigten die Reaktionen aus dem Publikum. Er selbst habe Ähnliches erlebt, meldete sich ein deutscher Zuhörer zu Wort. "Was Sie beschrieben haben, ist in Deutschland gar nicht so lange her." Solche Schicksale habe es hierzulande auch vor 25 Jahren noch gegeben.
Autorin: Anna Corves
Redaktion: Michael Borgers