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Ein Kulturführer für geistig Behinderte

17. Juni 2010

Ein Projekt in Leipzig hat gezeigt, wie auch in der Forschung der Weg in die sogenannte inklusive Gesellschaft möglich ist. Hier arbeiten Menschen mit und ohne geistige Behinderung gleichberechtigt zusammen.

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Sebastian Wenzel und Projektleiterin Karen Kohlmann (Foto: DW)
Sebastian Wenzel und Projektleiterin Karen KohlmannBild: Mark Michel

Sebastian Wenzel ist auf Zeitreise - im Ägyptischen Museum in Leipzig. Der 23-Jährige ist geistig behindert und hat ein Faible fürs Alte Reich. Staunend und interessiert steht er vor der Nachbildung einer Pharaonenstatue. Seine Finger gleiten über in Stein gemeißelte Hieroglyphen. Seine Hände befühlen den kalten Stein. Es scheint, als ziehe ihn das alte Ägypten magisch an. "Ja, seit meiner Kindheit ist das schon so. Ich habe auch Bücher über Ägypten zu Hause, und da kann man erfahren, wie die Pharaonen gelebt haben."

Einmal hier im Museum will Sebastian alles ganz genau wissen. Er löchert den Museumsführer mit seinen Fragen oder übernimmt gleich selbst einen Teil der Führung. Denn er weiß viel über König Echnaton, Nofretete, Sarkophage und Mumien. Dass Sebastian eine geistige Behinderung hat, stört hier keinen. Ruhig und gelassen geht der Museumsführer auf alle Fragen von ihm ein. "Wann gab es das erste Bier? Wie lange liegt die Mumie schon in diesem Sarkophag?" Kein Wunder also, dass Sebastian nicht zum ersten Mal hier ist, denn hier kann er seinem Wissensdrang freien Lauf lassen. Doch heute hat er neben seinem Besuch noch eine Mission zu erfüllen.

Mission Kultur

Sebastian Wenzel beim Lesen (Foto: DW)
Sebastian Wenzel kann selber Forscher seinBild: Mark Michel

Sebastian, der beruflich in einer Behindertenwerkstatt Betten und Regale zusammenbaut, soll das Museum testen und bewerten. Wie verständlich ist die Ausstellung für ihn? Gibt es etwas zum Anfassen und Ausprobieren? Ist die Schrift groß genug, das Personal freundlich und offen? Gibt es Bilder und kann man Filme schauen? All das wird Sebastian herausfinden - im Dienst der Wissenschaft. Denn seit zwei Jahren ist er Mitarbeiter eines ungewöhnlichen Forschungsteams: Menschen mit und Menschen ohne geistige Behinderung forschen hier gemeinsam und gleichberechtigt.

Das Team besteht aus sieben weiteren Kollegen aus Sebastians Behindertenwerkstatt und vier ehemaligen Studenten der Universität Leipzig. Gemeinsam erforschen sie die Museen, Theater und Ausstellungen der Stadt, um am Ende einen Kulturführer für Menschen mit geistiger Behinderung zu entwickeln.

Teilhabe und gemeinsames Forschen

In Sebastians Forschungsteam begegnen sich alle auf Augenhöhe. "Alle reden mit, jeder ist aktiver Forscher", erklärt Karen Kohlmann, die das Projekt leitet und mitentwickelt hat. "Menschen mit Behinderung werden nicht mehr erforscht, sind also nicht mehr Objekt der Forschung, sondern sie forschen mit - von der Themenfindung bis zum Schreiben des Forschungsberichts." Ein Jahr lang hat sie mit Sebastian und den anderen das Projekt vorbereitet. "Am Anfang waren wir uns nicht sicher, ob wir wirklich zusammen wissenschaftliche Texte lesen sollten. Wir dachen, das ist vielleicht zu schwer. Doch zu unserer Überraschung hat das sehr gut geklappt", meint Karen.

Bis Sebastian allerdings den Mut und das Selbstvertrauen hatte, wirklich eigenständig zu arbeiten, Ideen zu entwickeln und sich einzubringen, hat es eine ganze Weile gedauert. Zudem fanden sich die Forscher immer wieder im klassischen Betreuer-Betreute-Verhältnis wieder. "Es war für alle ein Reflexionsprozess", sagt Karen.

Experten in eigener Sache

Sebastian Wenzel vor einer Erklärtafel stehend und auf einen Knopf in der Wand drückend (Foto: DW)
Wo gibt es etwas zum Anfassen und Ausprobieren?Bild: Mark Michel

Nach der grauen Theorie folgte die bunte Praxis - ein Jahr Feldforschung in mehr als 30 kulturellen Einrichtungen der Stadt. Immer wieder ging Sebastian zum Museumspersonal und stellte Fragen. Sein Interesse für die Welt ist groß. Überall wurde er offen und freundlich informiert. Die Erfahrungsberichte und Erkenntnisse trugen Sebastian und die anderen Forscher zusammen, um alles in ihren Kulturführer zu schreiben.

Nicht nur die Gruppe veränderte sich durch das Projekt, sondern auch manche Kultureinrichtungen der Stadt. Durch die Projektarbeit wurden die Museumsbetreiber für die Wünsche und Sichtweisen von Sebastian und seinen Kollegen sensibilisiert.

Nach zwei Jahren gemeinsamer und intensiver Arbeit war der Kulturführer für Menschen mit geistiger Behinderung dann fertig - geschrieben in leichter Sprache, mit vielen Erklärungen und Bildern. Auf einer Pressekonferenz im Leipziger Rathaus präsentierten Sebastian und seine Kollegen ihren Kulturführer stolz der Öffentlichkeit. Sie zeigten, worauf es ihnen ganz besonders ankommt: Barrierefreiheit, Respekt und Freundlichkeit, Filme und Bilder und etwas zum Anfassen und Ausprobieren.

So wurden aus vormals schüchternen Menschen öffentliche Redner. Sebastian erklärte dem Publikum, was "Inklusive Forschung" bedeutet und berichtet über seine Arbeit. Im Hintergrund lief ein Film von den Museumsbesuchen. Nach der Präsentation gab es eine Menge Fragen und viel Applaus.

Das gemeinsame Forschen hat Begegnungen geschaffen, Grenzen überwunden und Barrieren infrage stellt. Alle haben etwas gelernt - und sie haben es gemeinsam getan.

Autor: Mark Michel

Redaktion: Kay-Alexander Scholz