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Segen oder Fluch

5. Oktober 2011

Nach seiner Flucht 1959 aus Tibet fand der Dalai Lama im indischen Dharamshala Zuflucht. Doch in Indien häufen sich Stimmen, die den Dalai Lama nicht als Segen, sondern als Fluch für Indien bezeichnen.

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Der Dalai Lama bei einer Tempelrede im März 2011 (Foto: McLeodgan)
Tenzin Gyatso lebt seit 1959 mit Tausenden seiner Anhänger im indischen DharamsalaBild: DW

Wie genau die Aktivitäten des Dalai Lama im indischen Exil von China beobachtet werden, zeigte sich vor zwei Jahren. Im August 2009 besuchte das geistliche Oberhaupt der Tibeter Tawang, eine kleine Stadt im Grenzgebiet zwischen Indien und China im indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh.

Der Dalai Lama (mitte) und Dorjee Khandu, Arunchal Pradeshs Regierungschef (links)
Ein Besuch mit Folgen: der Dalai Lama im Grenzgebiet zwischen China und IndienBild: AP

China hatte gegen den Besuch des Dalai Lama in der Region protestiert. Denn die Volksrepublik erhebt Anspruch auf rund 90.000 Quadratkilometer des Bundesstaates. Indien beschuldigt im Gegenzug China, ein rund 40.000 Quadratkilometer großes Landstück in Kaschmir besetzt zu halten. Indien hatte den Besuch des Dalai Lama, der für eine Vortragsreihe nach Tawang gereist war, ausdrücklich genehmigt. Denn der Besuch - so die indische Regierung - hatte keinen politischen Hintergrund.

Das Tibet Bureau in Genf ist die offizielle Vertretung des Dalai Lamas für Zentral- und Osteuropa. Repräsentant Tseten Chhoekyapa glaubt, dass die indische Regierung, anders als die Menschen in Indien, bei der Unterstützung des Dalai Lama gewissen Zwängen unterliegt: "Die Menschen sind immer für Gerechtigkeit, egal in welchem Teil der Welt sie leben. Und die, die in einer Demokratie leben, sind besonders dafür."

Aber gerade eine Regierung müsse eben auch gute bilaterale oder multilaterale Beziehungen zu den Nachbarn unterhalten. Deshalb argumentiert Chhoekyapa: "Wenn das Tibetproblem friedlich gelöst würde, könnte Indien viel Geld sparen, das derzeit für militärische Zwecke ausgegeben wird. Stattdessen könnte dieses Geld in die Bildung oder die wirtschaftliche Entwicklung des Landes investiert werden."

Indien ist gespalten

Doch ob in der Regierung oder unter den Intellektuellen in Indien: es mehren sich Stimmen, die sagen, dass Indien es sich nicht leisten kann, wegen des Dalai Lama seine Beziehungen zu China aufs Spiel zu setzen. Die Einen argumentieren, dass sich Indien als größte Demokratie der Welt völlig zu Recht hinter den Dalai Lama gestellt und sich daher auch weltweit richtig positioniert habe. Der Dalai Lama sei ein Segen für Indien. Der Friedensnobelpreisträger könne als Faustpfand benutzt werden, da er von den Mächtigen der Welt hofiert werde und als Sympathieträger gilt.

US-Präsident Barack Obama (r) am Samstag (16.07.2011) beim Zusammentreffen mit dem Dalai Lama(Foto: dpa)
US-Präsident Obama empfing das geistliche Oberhaupt der Tibeter trotz Pekings Proteste im Weißen HausBild: picture-alliance/dpa

Andere dagegen sagen, dass Indiens Probleme mit dem großen Rivalen China nur dadurch verursacht wurden, dass Indien dem Dalai Lama überhaupt das Exil angeboten und damit die kulturelle und religiöse Identität der Tibeter am Leben gehalten hat. Sie sehen die Diskussion um Tibet als interne Problematik Chinas, in die man sich nicht einmischen solle.

Viele Skeptiker

Zu den Skeptikern gehört zum Beispiel auch der ehemalige indische Außenminister Kunwar Natwar Singh, ein ausgewiesener Chinakenner. In seinem 2009 erschienenen Buch "My China Diary" argumentiert er, dass die Beziehungen zwischen Indien und Tibet bis zum Einmarsch der chinesischen Armee niemals sonderlich gut waren, da auch Tibet an einigen indischen Gebieten interessiert war.

Ein tibetischer Mönch betet, im Vordergrund eine Tibetfahne(Foto: AP/Ashwini Bhatia)
Tausende Tibeter leben im indischen DharamshalaBild: AP

Anders hingegen die chinesisch-indischen Beziehungen. Diese verschlechterten sich erst rapide, nachdem der Dalai Lama mit seinen Anhängern nach Indien geflüchtet war. Der Tiefpunkt wurde 1962 erreicht, als es zum indisch-chinesischen Krieg kam. Erst seit Ende der 1980er Jahre entspanne sich das Verhältnis zusehends, so Kunwar Natwar Singh.

Der Tibetkenner und Analyst Vijay Kranti aus Neu Delhi sieht das anders: "Nachdem China Tibet besetzt hat, argumentiert die Volksrepublik, dass Tibet nun ein Teil Chinas ist. Genauso ist die Argumentation Chinas auch, wenn es um Arunachal Pradesh geht, das China inzwischen als Südchina bezeichnet." Indien müsse ein neues Selbstbewusstsein entwickeln und China entgegentreten, fordert Kranti: "Eine illegale Besetzung Tibets, wie es ja auch von den Vereinten Nationen bestätigt wurde, kann China nicht als Grundlage nehmen kann, um zu argumentieren, dass wenn Tibet zu China gehört, automatisch auch Arunachal Pradesh ein Teil Chinas ist." Aber die indische Regierung verhalte sich defensiv, so Kranti weiter. Sie wolle das Thema nicht anschneiden, um keine Diskussion um die Konfliktregion Kaschmir aufkommen zu lassen.

Pakistan und China: Enge Partner

Die Gedankenspiele gehen sogar noch einen Schritt weiter. Da Pakistan seit jeher freundschaftliche Beziehungen zu China pflegt, befürchten einige, dass sich China und Pakistan noch stärker als bisher gegen Indien verbünden könnten, wenn Indien ganz offen den Dalai Lama politisch unterstützen würde.

Pakistan wurde 1947 genau wie Indien von Großbritannien unabhängig. Bei der blutigen Teilung und den daraus resultierenden Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus verloren Schätzungen zufolge knapp eine Million Menschen ihr Leben. Bis heute haben die beiden Nuklearmächte Indien und Pakistan schon drei Kriege gegeneinander geführt.

Ein pakistaniscer Polizist patroulliert in der Hafenstadt Gwadar (Foto: AP/Shakil Adil)
China investierte Millionen und erhielt dadurch Nutzungsrechte für den Hafen in GwadarBild: AP

Indien ist daher an einem schwachen Pakistan interessiert und nicht an einem Pakistan, das durch die offene Unterstützung der Regionalmacht China enorm an Stärke gewinnen würde. Denn China hat bereits Fakten geschaffen, so der Analyst Vijay Kranti: "Die ehemals tibetisch-pakistanische Grenze ist nun eine pakistanisch-chinesische Grenze. Davon ausgehend hat China sich durch Infrastrukturprojekte inzwischen einen sehr guten Zugang zum Arabischen Meer geschaffen."

In der pakistanischen Hafenstadt Gwadar habe China in einen riesigen Hafen investiert. Dort sind auch chinesische Schiffe stationiert, die chinesische Marine nutzt den Hafen als Stützpunkt. "Bis jetzt war Indien Pakistan überlegen," so Krankti weiter. "Aber nun ist die Seehoheit Indiens an seiner Westküste durch die Anwesenheit der Chinesen ein großes Stück weit verloren gegangen." Der Dalai Lama hat erst jüngst wieder betont, dass er sich nach mehr als 50 Jahren im indischen Exil als "Sohn Indiens" fühlt. Ob er für Indien aber ein Segen oder ein Fluch ist, ist schwer zu beurteilen.

Autoren: Priya Esselborn/Vivek Kumar
Redaktion. Ziphora Robina