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Warum Harvey Weinstein keine Ausnahme ist

Scott Roxborough db
14. Oktober 2017

Die Unterhaltungsindustrie, aber auch die Medien müssen Verantwortung für die andauernden Fälle von sexueller Belästigung übernehmen, meint DW-Hollywood-Experte Scott Roxborough.

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Harvey Weinstein
Bild: Getty Images/National Geographic/B. Bedder

Im Kultfilm "Casablanca" war einst der französische Polizeichef Capitaine Louis Renault "schockiert, schockiert!" - so ging es mir auch, als ich hörte, dass Hollywoodproduzent Harvey Weinstein vorgeworfen wird, seit Jahrzehnten Frauen zu belästigen und zu vergewaltigen.

Natürlich wussten wir das alle.

Seit mehr als 10 Jahren arbeite ich als Korrespondent für den "Hollywood Reporter". Jeder, den ich kenne, hatte diese Geschichten schon einmal gehört: Harvey Weinstein, Produzent oskarprämierter Filme wie "The English Patient" und "Pulp Fiction", ist ein Sexualtäter. Er betatscht Frauen, er bedrängt sie, Sex mit ihm zu haben und bietet im Gegenzug Rollen in seinen Filme oder Hilfe bei der Karriere. Kaum waren Berichte in der "New York Times" und im "New Yorker Magazine" erschienen, meldeten sich mindestens 30 Frauen zu Wort, darunter Schauspielerinnen wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow, Rose McGowen und Asia Argento. Auch sie seien von Weinstein belästigt worden, und mindestens vier Frauen bezichtigten den Hollywoodmogul der Vergewaltigung.

Sie werden nicht die letzten gewesen sein.

Wie verführerisch ist es doch, Harvey Weinstein als Anomalie zu sehen, als Monster inmitten von Hollywoods politisch korrekten Progressiven. Und dabei passt Harvey ins Bild, dieser dicke, zornige Mann, der regelmäßig seine Geschäftspartner, Mitarbeiter und sogar unschuldige Filmreporter wüst beschimpft, fast schon eine Karikatur des Schulhoftyrannen.Aber wenn es um sexuelle Belästigung geht, ist Weinstein keine Ausnahmeerscheinung. Tatsache ist: Belästigung gehört zu Hollywood wie der rote Teppich.

Bill Cosby, Comedian Joe Torry und Polizist
Der Cosby-Prozess endete ohne UrteilBild: Reuters/L. Jackson

Weinstein ist nicht der erste Fall 

Bevor Weinstein Schlagzeilen machte, war es Bill Cosby, der beliebte Komiker, TV-Star und – laut den Zeugenaussagen dutzender Frauen – Serienvergewaltiger, der Frauen seit Jahrzehnten mit Rauschmitteln betäubte und belästigte. Es ist noch nicht lange her, da mussten zwei der mächtigsten Männer bei Fox News, nämlich der Vorsitzende Roger E. Ailes und Starmoderator Bill O'Reilly, wegen angeblicher sexueller Übergriffen den Hut nehmen. Roy Price, Chef der Amazon Studios, wurde diese Woche wegen ähnlicher Anschuldigungen suspendiert.

Dabei muss man unterscheiden: Belästigung ist nicht gleich Vergewaltigung. Beschuldigungen sind keine Beweise. Aber all diese Fälle deuten auf ein perverses Muster hin: mächtige Männer – und es sind immer Männer – nutzen vor allem junge Frauen aus.

Das ist alles nicht neu. Den Begriff "Besetzungscouch", der doch eher den Ernst der sexuellen Übergriffe verniedlicht, gibt es seitdem es Hollywood gibt. Kinderstar Shirley Temple hörte mit 21 auf Filme zu drehen, um den andauenden sexuellen Avancen der Produzenten, Studiobosse und Schauspielerkollegen zu entkommen.

Die Macht zu entscheiden, ob ein Film gedreht wird und wer eine Rolle bekommt, liegt in den Händen einiger weniger Männer - das ist das Wesen des Filmgeschäfts, fruchtbarer Boden für Ausbeuterei.

Männer dominieren das Filmgeschäft. Sie sind Produzenten, Studiobosse und Regisseure, und es gibt keinen Mangel an schönen jungen Frauen, die um Rollen konkurrieren. Frauen, die aufmuckten, wurden entlassen, ihre Namen landeten auf schwarzen Listen, die Karrieren wurden ruiniert.

Meryl Streep und Harvey Weinstein
Meryl Streep nannte die Vorfälle "schändlich"Bild: Getty Images/A.E. Rodriguez

Hollywood guckt weg

Vielleicht erklärt das, warum Harvey Weinstein sich (angeblich) so lange so daneben benehmen konnte. In Hollywood war sexuelle Belästigung nur so eine Art Grundrauschen, "so funkionierte das Geschäft eben." Aber wir alle, die wir die Gerüchte hörten und nichts taten — dazu gehöre auch ich — tragen Verantwortung für das, was geschah und immer noch geschieht.

Die Medien und die Eliten Hollywood werfen nun Harvey Weinstein den Wölfen zum Fraß vor.

Und das ist richtig so. Aber es wäre gefährlich und scheinheilig, so zu tun als sei er eine Ausnahme gewesen, als sei das Problem der sexuellen Belästigung nicht systemimmanent.

Es wäre so scheinheilig wie vorzugeben, hier - im selbstgefälligen alten Europa - gäbe es so etwas nicht. Missbrauchs-Skandale gab es auch in England, zum Beispiel um BBC-Moderator Jimmy Saville, der sich jahrzehntelang an Dutzenden Jungen und Mädchen verging.

Vorwürfe auch in Europa

Ob es ähnliche Fälle in der deutschen Filmindustrie gab, weiß ich nicht. Aber das ist kein Grund für Selbstgefälligkeit, hier gibt es in den Medien noch viel weniger mächtige Frauen als in Hollywood. Heidi Klum, deutsches Model und in den USA Moderatorin von "Project Runway", einer Show, die übrigens von Harvey Weinstein produziert wird , traf den Nagel auf den Kopf, als sie sagte, es sei naiv zu glauben, solch ein Verhalten gebe es nur in Hollywood.

Heidi Klum
Das passiert nicht nur in Hollywood, sagt Heidi Klum Bild: Reuters

Den Weinstein-Skandal nannte Klum in einem Interview mit "People Magazine" ein Beispiel dafür, wie schlecht Frauen weltweit noch behandelt würden. "Es wäre sicher schwer, eine Frau zu finden – mich eingeschlossen -, die sich noch nie eingeschüchtert oder bedroht gefühlt hat von einem Mann, der seine Macht, Position oder körperliche Statur ausnutzt."

Es wird sich was ändern müssen 

Der einzige Hoffnungsschimmer, den ich in diesem Skandal sehe, ist, dass sich jetzt vielleicht etwas ändert. Schmutzige Geheimnisse lassen sich in Zeiten von Smartphones und Social Media nicht mehr so gut verbergen. Wenn sie doch ans Licht kommen, gibt es Konsequenzen.

Nur wenige Tage nach dem ersten Artikel in der "New York Times" wurde Weinstein geschasst. Am Samstag tritt die Akademie zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Amazon suspendierte Roy Price nur Stunden nachdem die Anschuldigungen publik wurden. Der Fall Bill Cosby endete mit einem ergebnislosen Prozess, aber selbst, wenn er nicht ins Gefängnis kommt, wird er nie wieder arbeiten.

Langsam, zu langsam nimmt Hollywood Notiz. Langsam, zu langsam erheben die Missbrauchsopfer ihre Stimme. Langsam, zu langsam nehmen Frauen Machtpositionen in der Filmindustrie ein, die ihnen erlauben werden, die Dinge zu ändern.

Es wird nicht schnell geschehen, aber es wird geschehen, davon bin ich überzeugt.