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Politik

Hetze wegen einer Versöhnungsrede

Roman Goncharenko
21. November 2017

Der Auftritt eines russischen Schülers im Bundestag löst in Russland eine an Hetze grenzende Debatte aus. Der Vorwurf: Mitleid für die deutschen Kriegsgefangenen. Schließlich reagiert der Kreml.

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Der russische Schüler Nikolaj Desjatnitschenko spricht am Volkstrauertag vor dem Bundestag
Der russische Schüler Nikolaj Desjatnitschenko spricht am Volkstrauertag vor dem BundestagBild: Deutscher Bundestag

Die wichtigste Nachricht des Montags kam für den staatlichen russischen Fernsehsender Rossija-1 aus Berlin und es waren nicht die gescheiterten Sondierungsgespräche. Die Moderatorin einer politischen Talkshow sprach von einem "wahren internationalen Skandal", den ein russischer Schüler bei seinem Auftritt im Bundestag ausgelöst habe. 

Kriegsgefangegenschicksale im Bundestag 

Der 16-jährige Nikolaj Desjatnitschenko, ein Gymnasiast aus Nowyj Urengoj in Sibirien, war sichtlich nervös, als er an der Gedenkfeier zum Volkstrauertag im Bundestag sprechen durfte. Vor ihm in der ersten Reihe saßen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und viele Mitglieder der amtierenden Regierung. Insgesamt sechs Schüler, je drei aus Deutschland und Russland, stellten ein gemeinsames Projekt der Partnerschulen aus Kassel und Nowyj Urengoj vor. Sie untersuchten Schicksale von Kriegsgefangenen in den jeweiligen Ländern.

In seinem knapp zweieinhalbminütigen Auftritt erzählte Desjatnitschenko über einen Wehrmachtssoldaten, der bei Stalingrad in Gefangenschaft geraten und später in einem Lager gestorben war. Das Schicksal des Deutschen und die Arbeit am Projekt hätten ihn gerührt, sagte der russische Schüler. Daraufhin habe er einen deutschen Soldatenfriedhof besucht und sei "sehr traurig" gewesen: "Ich habe Gräber von unschuldig gestorbenen Menschen gesehen, unter denen viele friedlich leben und keinen Krieg führen wollten."

Hetze in sozialen Netzwerken

Dieser Satz löste in Russland eine lawinenartige Welle der Empörung aus, nachdem ein in Deutschland lebender Russe den Mitschnitt der Rede veröffentlicht hatte. Auch Desjatnitschenkos für russische Ohren eher ungewöhnliche Redewendung "der sogenannte Kessel von Stalingrad", erboste viele.

Vor allem in sozialen Netzwerken entstand eine hitzige Diskussion. Manche warfen dem Gymnasiasten Staatsverrat vor und drohten mit Gewalt. Der Hauptvorwurf: Desjatnitschenko habe Mitleid mit einem deutschen Soldaten gezeigt, dessen Armee einen Angriffskrieg begonnen hatte. Die Tatsache, dass in Russland in diesen Tagen an den 75. Jahrestag der sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad erinnert wird, wirkte wie ein zusätzlicher Verstärker für Emotionen.

Russland, Tag der Staatsfahne 2008
Patriotismus wurde vom Kreml zur nationalen Idee erklärtBild: picture-alliance/dpa/E. Kochetkov

Der Fall bekam schnell eine politische und rechtliche Dimension. Abgeordnete in einem Lokalparlament bat die Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob es sich um eine Relativierung der Nazi-Verbrechen handele. Die Stadtverwaltung in Nowyj Urengoj kündigte ihrerseits eine Überprüfung in Desjatnitschenkos Gymnasium an. Die Mutter des Schülers hat einen "Erklärungsbrief" über russische Medien veröffentlicht, in dem sie von einer aus Zeitgründen gekürzten Rede im Bundestag spricht. Ursprünglich habe ihr Sohn mehr über seinen Urgroßvater, einen Kriegsveteranen, erzählen wollen. Seine Hauptbotschaft sei jedenfalls der Wunsch nach Frieden in der Welt gewesen. Auch das Gymnasium stellte sich in einer Stellungnahme gegenüber der DW hinter seinem Schüler. Es handele sich um ein "kommunikatives Missverständnis", da die Rede gekürzt worden sei. 

Unterstützung vom Kreml

Auch Aufrufe, die privaten Sponsoren des deutsch-russischen Erinnerungsprojekts zu überprüfen, wurden laut. "Wer sind diese großzügigen Privatpersonen?", wetterte Wladimir Schirinowskij, Duma-Abgeordneter und Anführer der rechtspopulistischen Partei LDPR, im Fernsehen. Ein pikantes Detail: Nowyj Urengoj gilt inoffiziell als die "Gashauptstadt" Russlands und der Energiegigant "Gazprom" ist der Sponsor des Gymnasiums. Auf der deutschen Seite, in Kassel, sitzt Wintershall, ein wichtiger Partner von "Gazprom".

Nachdem die Debatte außer Kontrolle zu geraten drohte, bezog der Kreml Stellung. "Wir glauben, es ist falsch, ihm (Desjatnitschenko) böse Absichten oder gar Nazismus-Propaganda vorzuwerfen", sagte Dmitrij Peskow, Pressesprecher des Präsidenten Wladimir Putin. Der Fall brauche zwar keine Reaktion des Kremls, doch die Hetze sei befremdlich. Auch die Präsidentenbeauftragte für Kinderrechte, Anna Kusnezowa, stellte sich hinter Desjatnitschenko. "Durch Erniedrigung und Hetze werde man keinen Patriotismus erziehen", teilte sie mit.

Teil der staatlichen Erinnerungskultur  

Wer die Hintergründe der Reaktion verstehen möchte, kommt an den neuesten Entwicklungen in Russland nicht vorbei. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg der UdSSR gegen den Aggressor, also Nazi-Deutschland, seit Sowjetzeiten heißt, ist im heutigen Russland Teil der staatstragenden Erinnerungskultur geworden. In den Medien laufen endlose Sendungen und Filme über diesen Krieg. Auch an den Schulen ist es ein zentraler Teil der patriotischen Erziehung geworden. "Der Krieg ist als Thema, als historische Erinnerung, so wie es offiziell dargestellt wird, sehr wichtig in Putins Russland", sagt der Moskauer Radiojournalist und Blogger Alexander Pljuschtschew gegenüber der DW.

Vor diesem Hintergrund wirkt Desjatnitschenkos Mitleid mit einem Wehrmachtssoldaten auf viele Russen offenbar wie ein Fremdkörper. Der Fraktionschef der linken Partei "Gerechtes Russland" in der Staatsduma, Sergej Mironow, formulierte es so: "Es besorgt mich, dass man der heranwachsenden Generation heute einen Pseudohumanismus beibringen möchte, indem die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Opfern und Tätern, unsichtbar verwaschen wird." Mironow hätte Fragen an die Eltern, die Lehrer und unter anderem an diejenigen, die "eine Show vor den Abgeordneten des Bundestags veranstaltet hatten", wie der Politiker in russischen Medien das deutsch-russische Erinnerungsprojekt und Schülerberichte darüber am Volkstrauertag interpretierte.