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Hartz IV reicht kaum zum Leben

24. September 2009

In Zeiten der Krise beschäftigt viele Wähler die Frage nach der Sicherheit ihrer Arbeitsplätze. Knapp 3,5 Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Doch in den Wahlprogrammen der Parteien findet das Thema kaum Platz.

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Pfarrer Franz Meurer und Ein-Euro-Jobber der St. Theodor-Gemeinde in Köln-Vingst in einer Werkstatt (Foto: DW)
Die Kölner Gemeinde St. Theodor beschäftigt Ein-Euro-JobberBild: DW

Jobverlust in Deutschland - das bedeutet für viele langfristig der Weg in die Armut. Ein Jahr lang gibt es Arbeitslosengeld, das 60 Prozent des letzten Netto-Verdienstes beträgt. Wenn man dann noch keinen Job gefunden hat, erhält man das Arbeitslosengeld II, auch "Hartz IV" genannt. Dieses berechnet sich nicht mehr an ursprünglichen Verdiensten, sondern sichert nur noch ein gewisses Grundeinkommen. Zurzeit gibt es in Deutschland etwa 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger, davon knapp 1,7 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Ein echtes Volksthema - doch die Volksparteien schweigen darüber in ihren Programmen zur Bundestagswahl. Was die Betroffenen wiederum betroffen macht.

Ein-Euro-Jobber bei der Pflege der Grünanlagen vor St. Theodor in Köln-Vingst (Foto: DW)
Arbeiten für 10 Euro am TagBild: DW

Die Gemeinde St. Theodor im Kölner Stadtteil Vingst beschäftigt Langzeitarbeitslose als so genannte "Ein-Euro-Jobber", das heißt: "Man kriegt einen Euro pro Stunde, wenn man Schulungen macht und 1,30 Euro, wenn man arbeitet", erklärt der 57-jährige Hartz-IV-Empfänger Hans-Peter Zimmermann. "Das sind zehn Euro pro Tag, bei 20 Tagen im Monat 200 Euro." Ein kleines Zubrot also zum Hartz IV-Geld. Das bekommen Langzeitarbeitslose, die grundsätzlich erwerbsfähig sind. Der Regelsatz für Erwachsene liegt derzeit bei 359 Euro, plus Zuschuss für die Miete, Kinder erhalten 251 Euro.

Jedes 6. Kind in Deutschland von Armut betroffen

Ein-Euro-Jobber sitzen in einer Werkstatt am Frühstückstisch (Foto: DW)
Frühstückspause im HöVi-LandBild: DW

Die Höhe dieser Sätze hat Konsequenzen: "In Deutschland lebt laut aktueller Studie der OECD fast jedes sechste Kind in einem armen Haushalt", liest Ein-Euro-Jobber Heinrich Gockel, 57 Jahre alt, den anderen bei der Frühstückspause aus der Zeitung vor. "Das Ranking zeigt, wie viel Prozent der Kinder in verschiedenen OECD-Ländern in Armutshaushalten von weniger als 50 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens leben. - Deutschland an achter Stelle! Das ist ja erschreckend." Dabei erlebt Heinrich Gockel die Armut jeden Tag selbst: Das "HöVi-Land", wie die Kölner Stadtteile Höhenberg und Vingst liebevoll genannt werden, gilt als sozialer Brennpunkt: Fast 40 Prozent der Menschen hier leben von Hartz IV oder Sozialhilfe, die Arbeitslosenrate liegt bei 20 Prozent.

Pfarrer Franz Meurer gestikuliert am Frühstückstisch (Foto: DW)
Pfarrer Franz Meurer sagt seinen Jungs, wo's lang gehtBild: DW

Genau hier engagiert sich Pfarrer Franz Meurer: Er organisiert Sommerfreizeiten für Kinder aus benachteiligten Familien, an der Kirche gibt es eine Lebensmittelausgabe, eine Kleiderkammer und verschiedene Arbeitslosenprojekte. Meurers Motto: Menschen bewegen - und Realist bleiben. "Wir können nicht immer meinen: das macht der Staat, das macht die Verwaltung, das macht die Rentenversicherung. Alle wollen immer große Programme machen und große Probleme lösen. Sollen sie machen, ich habe nichts dagegen - Entwicklungen kommen aber langsam!"

Nicht auf die Politiker verlassen - trotzdem wählen gehen

Ein-Euro-Jobber mit Rasenmähern vor der St. theodor-Kirche (Foto: DW)
Viele karitative Einrichtungen bieten Ein-Euro-Jobs anBild: DW

Pfarrer Meurer will seine Leute dazu kriegen, ihre Probleme selbst anzupacken. Auch der äußere Rahmen soll stimmen. Damit das Viertel nicht verwahrlost und sich die Menschen zumindest an schönen Blumen erfreuen können, haben die Ein-Euro-Jobber von HöVi-Land die Pflege der Grünanlagen übernommen. Eine Aufgabe, für die die Stadt kein Geld mehr hat.

Die Männer sind aus den unterschiedlichsten Gründen hier: "Ich war im Trockenbau beschäftigt, aber die Firma hat wegen Insolvenz zugemacht", sagt Günter Wagner (56). Heinrich Gockel war fast sein ganzes Leben lang selbständig. "Dann bin ich schwer erkrankt, hatte Probleme mit dem Kopf, durfte zweieinhalb Jahre gar nicht arbeiten." In seinen alten Beruf ist er nie wieder reingekommen, "und dann bin ich mehr durch Zufall hier bei Pfarrer Meurer gelandet."

Meurer setzt sich dafür ein, dass seine Leute wählen gehen. Bei der Kommunalwahl Ende August haben viele darauf verzichtet, weil sie sich von der Politik einfach alleine gelassen fühlen. "Wir haben hier einen Stimmbezirk mit neun Prozent Wahlbeteiligung gehabt - das geht nicht!" sagt Meurer. "Wenn neun von zehn Menschen sagen: 'Mich interessiert das nicht', dann hat man besser eine Diktatur. Demokratie heißt: Der Souverän sitzt hier! Wir sind das Volk! Und nicht nur bei einem Systemumbruch." Daran müsse man immer wieder erinnern.

Parteiprogramme finden nur andere Worte für Hartz IV

VW-Bus der Gemeinde mit der Aufschrift 'HöVi-Land-Express' (Foto: DW)
Im HöVi-Land haben die wenigsten Hoffnungen, dass sich nach der Wahl was ändertBild: DW

Doch die kleinen Leute stehen nicht gerade im Fokus der Bundestags-Wahlprogramme. Hartz IV abschaffen wollen lediglich die Linken. Sie wollen eine "Mindestsicherung" und - bis es so weit ist - den Hartz-IV-Regelsatz auf 500 Euro erhöhen. Die Grünen üben immerhin deutliche Selbstkritik: Die von der alten rot-grünen Bundesregierung mit verantworteten Arbeitsmarktreformen seien dem Anspruch, dass jedermann ein Leben in Würde führen kann, "nicht gerecht geworden" - mit 359 Euro sei das nicht möglich. Deshalb wird jetzt eine "Grundsicherung" angestrebt. Dazu gehört die Anhebung des Regelsatzes auf zunächst 420 Euro. Die SPD will die Regelsätze lediglich "regelmäßig überprüfen" und "gegebenenfalls" erhöhen. Die CDU sagt zur Höhe der Regelsätze gar nichts, sondern konzentriert sich auf das Thema Sozialmissbrauch. Die FDP wiederum fordert ein "Bürgergeld", das das Existenzminimum finanzieren und die Vielzahl verschiedener staatlicher Leistungen ersetzen soll.

Einige der Ein-Euro-Jobber in der Gemeinde in Köln-Vingst wählen seit Jahrzehnten ein und dieselbe Partei, andere sind vor dieser Bundestagswahl noch unentschlossen. Hoffnung, dass sich nach dem 27. September etwas an ihrer Lage ändert, haben die wenigsten.

Autorin: Julia Elvers-Guyot

Redaktion: Kay-Alexander Scholz