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Gefährliche Polarisierung

Baha Güngör12. Oktober 2004

Die Oppositionspartei CDU erwägt, mit einer Unterschriftenaktion gegen einen möglichen EU-Beitritt der Türkei mobil zu machen. Dies könnte zu einer gefährlichen Polarisierung in Deutschland führen, meint Baha Güngör.

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Mit ihrer Idee einer Unterschriftenkampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei riskiert CDU-Chefin Angela Merkel eine innenpolitisch gefährliche Polarisierung. Denn der Vorschlag wird von vielen als eine Abstimmung gegen die türkische Nation und Kultur verstanden werden. Zu Recht reagieren Türken in Deutschland verletzt und bezeichnen die Diskussion um eine Unterschriftenkampagne als eine "Kriegserklärung" gegen sie.

Mit ihrem Vorschlag lässt die CDU-Chefin jegliche Vernunft vermissen und begibt sich auf das niedrigste Niveau des Populismus. Populismus aber kann nicht die Leitlinie politischen Handelns sein, kann keine Sachdebatte ersetzen. Und käme in Deutschland tatsächlich jemand auf die Idee, nur weil sich in Meinungsumfragen immer mehr Bürger nach der Berliner Mauer zurücksehnen, Wälle und Selbstschussanlagen quer durch Deutschland wieder aufzubauen?

Türkei-Beitritt als Prüfstein für Rolle der EU

Die Erweiterung der EU in östlicher und südöstlicher Richtung ist eine notwendige und damit richtige Entscheidung. Die EU ist längst schon nicht mehr alleine eine an wirtschaftlicher Wohlstandsförderung interessierte Gemeinschaft. Sie ist inzwischen vielmehr eine Union, die Werte wie Demokratie und Menschenrechte, Minderheitenschutz und Dialog zwischen Kulturen und Religionen festigen und möglichst weit über die geografischen Grenzen Europas hinaus verbreiten will. Gerade deshalb ist die Entscheidung für oder gegen eine Heranführung der Türkei an Europa von größter Bedeutung für die Ernsthaftigkeit der Europäer, die über ihren Kontinent hinaus in der Weltpolitik mehr Mitspracherecht und größeren Einfluss für sich fordern. Die Türkei ist ein Prüfstein für das Ziel Deutschlands und der Europäischen Union, die Rolle eines "global players" zu übernehmen.

Gegen Merkels Vorschlag regt sich Widerstand in Deutschland: bei der Bundesregierung, aber auch innerhalb der Unionsparteien. So spricht der stellvertretende Fraktionschef der Union, Wolfgang Bosbach, von "Missverständnissen" und einem "mulmigen Gefühl" angesichts der jüngsten Idee seiner Parteivorsitzenden. Dabei gehört Bosbach zu den Gegnern eines türkischen EU-Beitritts.

Verfrühte Diskussion

Die Frage bleibt, ob eine derartige Polarisierung zum jetzigen Zeitpunkt notwendig ist. Denn bisher ist noch nicht einmal über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei definitiv entschieden, geschweige denn, dass die Aufnahme der Türkei in die EU unmittelbar bevor steht. Das wird - wenn überhaupt - frühestens in 15 Jahren der Fall sein. Es bleibt also reichlich Zeit für eine politische und gesellschaftliche Diskussion auf der Basis sachlicher Argumente. Festzuhalten bleibt bisher nur: Es gibt viele Gründe für, und auch einige nachvollziehbare Ängste gegen eine Einbeziehung der Türkei in die EU.

Die sich mit dem Unionsvorschlag anbahnende Spirale von gegenseitiger Polemik kann zu Exzessen führen, die dem von Deutschland gepflegten Bild einer aufgeklärten Demokratie auf der Basis von Humanität und Toleranz schaden könnte. Es besteht die Gefahr, dass ein Menschen und ihre Kultur und Religion verhöhnender Populismus unkalkulierbare Folgen haben wird: Horden auf deutschen Straßen, die "Türken raus" rufen, Boykottaufrufe gegenüber türkischen Geschäften und vielleicht fliegen auch wieder Steine und Brandsätze gegen türkische Einrichtungen und Wohnhäuser. Dann werden nicht nur wieder Erinnerungen an die Brandopfer von Mölln und Solingen, sondern auch an den 9. November wach - nicht als den Jahrestag des Mauerfalls 1989, sondern der Judenpogrome des Jahres 1938.