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Europameister im Bilanz-Betrug

22. Dezember 2003

Eine so enorme Bilanzfälschung hat Europa noch nicht erlebt. Der italienische Lebensmittelkonzern Parmalat hat ein Loch von vier Milliarden Euro verheimlicht - mindestens. Das Unternehmen steht vor dem Abgrund.

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Milch-Riese Parmalat: Das Imperium fällt zurückBild: AP

Der Milch-Riese Parmalat aus dem italienischen Colecchio rangierte bisher in einer Liga mit Fiat, Ferrero oder Barilla: ein Vorzeigeunternehmen. Doch in der Bilanz klafft eine Lücke von knapp vier Milliarden Euro. Denn ein angebliches Konto über diese Summe bei der Bank Of America soll schlicht nicht existieren.

Jetzt ermittelt die Justiz. "Die Sachlage ist klar, die Bilanzfälschungen sind offensichtlich", erklärte Staatsanwalt Angelo Curto. Medien argwöhnen, dass das Loch noch größer sein könnte. Die Zeitung "Corriere della Sera" berichtete, dass Parmalat womöglich weitere sechs Milliarden fehlen. Ministerpräsident Berlusconi will retten, was zu retten ist. Immerhin hängen an dem Konzern etwa 35.000 Arbeitsplätze in 30 Ländern. Die deutsche Niederlassung wisse noch nichts über ihre Zukunft, so ein Sprecher gegenüber DW-WORLD.

Brot, Eis und ein großes Loch

Für die nächsten Tage wird damit gerechnet, dass Parmalat den Insolvenzrichter ruft. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Bloomberg soll dem Konzern eine New Yorker Anwaltskanzlei beistehen, die schon den Telekomkonzern Worldcom durch das Insolvenzverfahren begleitet habe. Die Produktion läuft noch und soll auch weitergehen. Den Gewerkschaften ist daran gelegen, dass Parmalat nicht zerschlagen wird - der Konzern stellt unter anderem auch Brot, Eiscreme, Mineralwasser, Säfte und Gemüsekonserven her. Aus der kleinen Fabrik fürs Pasteurisieren von Milch, die Calisto Tanzi 1961 aufbaute, ist ein weltweit tätiges Imperium geworden. Eine Pleite würde tausende landwirtschaftliche Betriebe mit nach unten ziehen.

Unterdessen hat die italienische Wirtschaftspolizei am Samstag (20.12.03) Firmenräume von Parmalat durchsucht. Staatsanwälte schafften auch kistenweise Unterlagen aus den Büroräumen der Parmalat-Wirtschaftsprüfer Grant Thornton sowie Deloitte & Touche. Firmenchef Enrico Bondi, als Sanierer bekannt, berate sich mit Bankenvertretern, hieß es aus Branchenkreisen. Zu den Gläubigern zählen nicht nur italienische Kreditinstitute, sondern auch die Deutsche Bank, die knapp 5,2 Prozent der Anteile hält.

Schwer verdauliche Finanz-Aktionen

Bondi ist erst seit kurzem Chef von Parmalat. Firmengründer Tanzi musste am 15. Dezember 2003 seinen Hut nehmen, weil seinem Unternehmen mehrere Finanz-Fehler schwer im Magen liegen. Es konnte eine Anleihe von 150 Millionen Euro nicht fristgerecht zurückzahlen, obwohl in der Bilanz 4,2 Millarden an flüssigen Geldern aufgeführt sind. Schon vorher ging es mit Parmalat-Aktien und -Anleihen bergab, als der Konzern zugab, man habe 500 Millionen Euro in einen Fonds auf den karibischen Kayman-Inseln investiert und könne die Anlage nicht auflösen.

Am Montag (22.12.03) muss Parmalat den Investoren, die es für 400 Millionen Dollar aus einer brasilianischen Tochterfirma herauskauft, die zweite Rate überweisen. Dabei wurde schon die erste nicht bezahlt. Der Aktienkurs des Unternehmens fiel um 67 Prozent auf 0,10 Euro, seine Anleihen sanken auf ein Fünftel ihres Nominalwertes. Bei der Ratingagentur Standard & Poor's ist Parmalat auf die unterste Stufe (D) abgerutscht. Auch die Kurse der Gläubiger-Banken fielen.

Rettung für den Riesen

Italiens Regierung will nicht tatenlos zusehen, wie sich größte Lebensmittelhersteller des Landes seinem Verfallsdatum nähert. Berlusconi kündigte an, er werde staatliche Gelder zufüttern. Noch vor Heiligabend soll Wirtschaftsminister Giulio Tremonti bei der Kabinettssitzung Rettungsmaßnahmen vorstellen, während Sanierer Bondi sich so schnell wie möglich mit Industrieminister Antonio Marzano abspricht.

Eine traurige Ehre ist Parmalat jedenfalls schon sicher: Der Skandal stellt den bisherigen Europa-Rekordhalter in Sachen Bilanzbetrug, den niederländischen Einzelhändler Ahold, in den Schatten. Und Tremonti verglich die Lage mit der spektakulären Pleite des US-amerikanischen Energiekonzerns Enron im Jahr 2001. (reh)