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Estland macht Nachbar Finnland Konkurrenz

Stefan Tschirpke, Helsinki 20. Juni 2005

Eine kleine Keramikfirma verlagert ihre Produktion von Helsinki nach Tallinn. Das Beispiel zeigt: Auch im Norden der EU ist der Wettbewerb der Länder groß - besonders zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern.

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Schnelle Verbindung zwischen Nachbarn und Konkurrenten: die Fähre von Helsinki nach TallinnBild: DW

Sie sind nur durch den schmalen Finnischen Meerbusen voneinander getrennt. Sie sprechen ähnliche Sprachen. Sie besuchen sich häufig. Sie gehören beide zur Europäischen Union: Estland und Finnland. Doch schon seit einigen Jahren ist auch klar, dass Estland zu einem Faktor geworden ist, der die finnische Wirtschaftspolitik in Sachen Steuern, Lohnnebenkosten und Wirtschaftsförderung ernsthaft herausfordert.

Nicht nur große finnische Lebensmittelkonzerne, Warenhausketten oder Banken haben in Estland investiert, auch den finnischen Mittelstand zieht es mittlerweile zum Nachbarn, wie das Beispiel des Unternehmers Srba Lukic zeigt. Seit 20 Jahren lebt der Keramikmacher in Finnland. Der gebürtige Jugoslawe arbeitete zunächst einige Jahre bei Keramikfirmen. Dann gründete er sein eigenes Unternehmen: Savilinna - zu deutsch: Lehmburg. Er fertigt Keramik von Tafelgeschirr über Wandreliefs bis hin zu Massenware. Der 50-Jährige, der Keramikherstellung und Design einst an der Kunsthochschule in Belgrad studiert hat, fühlt sich wohl in Finnland. Er hat hier Familie, spricht glänzend Finnisch und kommt gut klar mit den Finnen.

Katzensprung über die Ostsee

Lukic ist aber auch und vor allem Unternehmer. Und als Unternehmer hatte er vor etwa zwei Jahren keine andere Wahl, wie er erzählt: "Ein Kunde bestellte eine Serie, die kostengünstig und qualitativ hochwertig sein sollte. Wir rechneten durch und mussten feststellen, dass wir in Finnland diesen Auftrag nicht machen können. Estland war die einzige Alternative."

Tallinn in Estland
Estlands Hauptstadt Tallinn (Foto: Archiv)Bild: AP

Tallinn ist per Schnellfähre nur 90 Minuten von Helsinki entfernt. Im Zentrum von Estlands Hauptstadt hat Lukic eine Tochterfirma gegründet. Seit einigen Monaten lässt er dort das Keramikgeschirr produzieren. "In Estland ist das Klima sehr unternehmerfreundlich", erzählt er. "So entschieden wir, die Serienproduktion von Finnland nach Tallinn zu verlagern. Die Entwicklungsbüros haben wir in Finnland gelassen."

450 Euro - pro Monat

Gleich neben dem Werkshop wird produziert. Fünf estnische Arbeiterinnen verwandeln Tonerde in Keramikdesign. Ihr monatlicher Durchschnittslohn liegt derzeit bei rund 7000 estnischen Kronen, etwa 450 Euro. Die Arbeitszeit beträgt achteinhalb Stunden täglich, in Finnland sind es acht Stunden. Laut Lukic sind die Lohnkosten in Tallinn halb so hoch wie in Finnland.

Den ökonomischen Vorteil der Produktionsverlagerung bestätigt auch der in Finnland lebende deutsche Unternehmer Rainer Puschmann. Seit Anfang 2005 ist Puschmann Miteigentümer der Tallinner Keramikfirma und Geschäftspartner von Lukic. In der Keramikproduktion gebe es viel Handarbeit zu tun, berichtet er. Deshalb machten sich die Kostenunterschiede zwischen Finnland und Estland bemerkbar.

Nette Behörden

Die Arbeitskräfte erhielt die Keramikfirma über das Arbeitsamt in Tallinn. Bürokratische Hürden gab es nach Angaben des Unternehmers bei der Firmengründung kaum. Obwohl die Sprachen in beiden Ländern ähnlich seien, gebe es jedoch mitunter Probleme bei der Kommunikation zwischen Esten und Finnen.

Zudem gebe es immer wieder Überraschungen: Steuern, die man nicht kennt, behördliche Besonderheiten. "Aber wenn man sich daran gewöhnt hat, dann geht das eigentlich sehr gut", zieht Puschmann sein Fazit.

Estland hat mit oft brachialer Reformfreude und Angriffslust ausländischen Firmen ein unternehmerisches Umfeld geschaffen, von dem sie in ihrer Heimat nur träumen können. Finnland hat auf die angriffslustigen Balten mit einer Senkung seiner Kapital- und Körperschaftssteuern reagiert. Ob dies reicht, bleibt abzuwarten.