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Eile tut Not

Hülya Köylü29. Juni 2003

Die Türkei will in die Europäische Union und unternimmt große Anstrengungen, um die politischen Aufnahmekriterien zu erfüllen. Vor allem im Justizwesen gibt es jede Menge zu tun.

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Bild: AP

Im Rahmen eines "nationalen Programms" soll in der Türkei ein großes Reformpaket auf den Weg gebracht werden, das das Land am Bosporus der EU ein Stück näher bringt. Die EU will auf der Grundlage des Kopenhagener Beschlusses Ende 2004 über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden.

Radikale Reformen

Die Gesetzgeber wollen das türkische Justizsystem radikal reformieren, und zwar entsprechend den internationalen Standards. Vor allem das noch aus den 1920er Jahren, also der Gründungszeit der Republik stammende Strafgesetzbuch wird gründlich umgearbeitet. Es ist nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich völlig veraltet.

Nach Vorstellung der Gesetzgeber soll unter anderem die Unterscheidung zwischen "schweren" und "leichten" Haftstrafen abgeschafft werden. Anstelle der vor kurzem abgeschafften Todesstrafe soll die lebenslängliche Haftstrafe treten - jedoch mit verschärften Vollzugsbestimmungen.

Darüber hinaus sollen alternative Vollzugsmethoden für Freiheitsstrafen geschaffen werden. Bei Haftstrafen unter zwei Jahren soll es demnächst möglich sein, diese in gemeinnützige Arbeit umzuwandeln. Zudem sind für bestimmte Straftaten hohe Geldstrafen oder Kautionen vorgesehen. Verurteilte Frauen sollen die Möglichkeit haben, ihre Haftstraße zu Hause abzubüßen. Ein elektronisches Gerät am Fußgelenk soll die Bestraften überwachen.

Klingt wie Mittelalter

Deutsche Geschichte Kapitel 9 Folter

In der geplanten Neufassung des Strafgesetzbuches werden auch die Bestimmungen zur Bestrafung von Folter verschärft. Der Täterkreis wird erweitert: Nicht nur Staatsbedienstete, auch Privatpersonen sollen wegen Folter strafrechtlich verfolgt werden können. Auch die Strafen werden härter: Beim Tod eines Folteropfers droht dem Verursacher künftig lebenslängliche Haft. Falls Beamte oder Staatsbedienstete foltern, müssen sie laut Entwurf mit einer Gefängnisstrafe von fünf bis zehn Jahren rechnen.

Einen Meilenstein in Richtung Demokratie könnte die geplante Regelung darstellen, wonach Zivilisten nicht mehr vor
Militärgerichte gestellt werden können. Die bisherige Praxis führte zu heftiger Kritik im In- und Ausland. Zudem sollen bestimmte Straftaten - etwa militärische und politische Spionage - nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Militärrichter fallen.

Militär in der Zivilgesellschaft

Parallel zur Novellierung des Strafgesetzbuches sollen weitere Gesetzesänderungen verabschiedet werden, um das Land auf EU-Kurs zu trimmen. Im 6. Anpassungspaket, das im Dezember 2003 der EU vorgelegt werden soll, wird die Funktion des Militärs in der Zivilgesellschaft neu definiert. Der von Militärs dominierte Nationale Sicherheitsrat - de facto bisher die höchste Machtinstanz in der Türkei - soll etwa keine Vertreter mehr in verschiedene Gremien entsenden.

Geplant ist auch eine Änderung des umstrittenen
Anti-Terror-Gesetzes. Darin soll Artikel 8, der die Gedanken- und Meinungsfreiheit einschränkt, gestrichen werden. In der
Vergangenheit sind zahlreiche Intellektuelle, denen "Propaganda gegen die Einheit des Staates" vorgeworfen wurde, auf Grundlage dieses Artikels mit harten Strafen belegt worden.

Gelockert werden sollen auch die den Kurden auferlegten Beschränkungen. Privaten Fernsehanstalten soll erlaubt werden, Sendungen auch in kurdischer Sprache auszustrahlen. Und Eltern sollen nun auch offiziell die Möglichkeit bekommen, den Neugeborenen kurdische Namen zu geben.

Auch das umstrittene Arbeitsgesetz wird neu justiert. Es soll zum Beispiel die Beschäftigung ohne soziale Versicherung unter Geldstrafe stellen und die Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren verbieten.