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Defizite bei den Grundwerten

28. Mai 2003

Kunst, Musik, Sport: In vielen Bereichen hat die Türkei die europäischen Normen erreicht. Das Kaplan-Urteil zeigt, dass es Türkei noch große Hindernisse auf dem Weg gibt, meint Baha Güngör.

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Ob im Fußball, in der Kunst oder beim Schlagerwettbewerb "Grand Prix de la Chanson": Die Türkei feiert große Erfolge, die auch die Europa-Euphorie in dem Land am Bosporus weiter anheizen. Schließlich strebt Ankara bereits seit Jahrzehnten eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union an und erhofft sich dadurch einen weiteren Modernisierungsschub. Die Weigerung eines deutschen Gerichts, den Radikal-Islamisten Metin Kaplan in die Türkei auszuweisen, zeigt jedoch: Die türkischen Gesetze haben noch zu viele Defizite, um europäischen Standards zu genügen.

An Gründen für Jubel und Stolz herrscht für die türkische Nation in den letzten Jahren kein Mangel: Der türkische Fussball-Gigant Galatasaray Istanbul gewann den UEFA-Pokal, die türkische Nationalmannschaft errang vergangenes Jahr bei der Fussball-WM den dritten Platz. Goldmedaillen im Gewichtheben folgten große Erfolge im Ringen, in Cannes gewann der Regisseur Nuri Bilge Ceylan den zweiten Preis. Zwischendurch wurde eine Türkin aus den Niederlanden zur schönsten Frau der Welt gekürt, mit Süreyya Ayhan lief eine Türkin ihrer Leichtathletik-Konkurrenz aus Europa davon. Der Pianist Fazil Say begeisterte auf dem Beethoven-Festival in Bonn. Und seit dem vergangenen Wochenende ist die türkische Öffentlichkeit wieder aus dem Häuschen, nachdem die Sängerin Sertab Erener den "Grand Prix de la Chanson" gewonnen hatte. Ihr Sieg trieb die Massen auf die Straßen, um die neue Nationalheldin gebührend und Fahnen-schwingend mit langen Autokonvois und Hupkonzerten zu empfangen.

Tatsächlich hat die Türkei in vielen Bereichen europäische Normen erreicht: in der Kunst, im Sport, in der Musik. Nicht zuletzt gehören auch viele türkische Wissenschaftler zu den europäischen Eliten. Aber garantieren die internationalen Entertainment-Erfolge das notwendige Bewusstsein für die ethischen und politischen Grundwerte Europas? Die Antwort auf diese Frage lautet: Nein!

Türkische Politiker sonnen sich zwar gern mit im Erfolg "ihrer" Stars auf dem grünen Rasen oder auf internationalen Bühnen - und sagen bei solchen Gelegenheiten auch gerne, dass die Türkei auf ihrem Weg in die Europäische Union nun nicht mehr aufgehalten werden könne. Doch politisch ist Ankara noch längst nicht in Europa angekommen. Die Kopenhagener Kriterien für EU-Beitrittskandidaten verlangen auch von der Türkei Demokratie ohne Abstriche, Respekt vor Menschenrechten und Minderheiten sowie wirtschaftliche Entwicklung. Lorbeeren für Sieger in Sportarenen oder Konzerthallen sind zwar erfreulich, aber auch wenn viele türkische Politiker so tun: Sie machen die Türkei nicht europäischer im Sinne dieser Kriterien.

Dazu bedarf es des politischen Willens der Staatsführung, ohne Wenn und Aber. Den Worten müssen Taten folgen, die Reformprozesse müssen beschleunigt werden. Das gilt vor allem für jene Politiker, deren Niveau und Verständnis von Moderne noch sehr viel zu wünschen übrig lässt. Als Folge einer erlahmten Legislative wegen interner Machtkämpfe muss die türkische Justiz immer noch nach Paragraphen entscheiden, die längst einer Generalüberholung bedürfen.

Typisches Beispiel dafür: der Muslim-Fundamentalist Metin Kaplan, der nach Absitzen einer Haftstrafe in Deutschland wegen Aufhetzung und Aufruf zum Mord jetzt dort auf freien Fuß gesetzt wurde - weil die türkischen Gesetze so große Defizite aufweisen, dass eine Auslieferung für das Düsseldorfer Oberlandesgericht nicht in Frage kam. Laut Gericht hätte Kaplan in seiner alten Heimat ein Verfahren erwartet, dass "dem völkerrechtlich verbindlichen Verbot einer Verwertung polizeilich erpresster Aussagen" widersprechen und den "Charakter politischer Verfolgung" tragen würde.

Diese Begründung sollte Ankara zu denken geben. Justiz und Sicherheitsbehörden in der Türkei haben offenkundig die Europäer und gerade auch europäische Juristen noch nicht davon überzeugen können, dass die Türkei inzwischen ein Rechtstaat im europäischen Sinne ist. Tatsächlich sprechen auch immer noch zu viele Fakten gegen diese Überzeugung - auch wenn türkische Politiker dies gern anders darstellen. Schade um ein Land und eine Bevölkerung, die mehr Anerkennung verdienen als punktuelle Glanzlichter in der Welt von Kultur oder Sport. Die Türkei ist aus kultureller und historischer Sicht ein Bestandteil Europas. Sie strebt zu Recht einen EU-Beitritt an. Aber sie muss sich noch enorm anstrengen, um beim beschleunigten Integrationsprozess in Europa nicht ins Abseits zu geraten.