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Politik

Ein Grauen, das Deutschland prägte

23. Mai 2018

Vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg - ein Krieg um Religion und Macht, der Mitteleuropa ins Chaos stürzte. Der Friedensschluss von 1648 könnte Anregungen für heutige Konfliktlösungen liefern.

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Dreißigjähriger Krieg
Bei der Schlacht von Lützen bei Leipzig sollen bis zu 10.000 Menschen getötet worden seinBild: Imago/United Archives

Protestantische Adelige stürmen am 23. Mai 1618 in die Prager Burg. Sie fordern Religionsfreiheit von den Statthaltern des katholischen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, denn Kaiser Matthias hatte die Rechte der Protestanten eingeschränkt. Nach einem Wortgefecht werfen die Adligen aus Böhmen, dem heutigen Tschechien, die Statthalter und einen Sekretär aus dem Fenster. Nur mit Glück überleben die Männer den Sturz in den Burggraben.

Diesen Akt der Auflehnung, der als Prager Fenstersturz in die Geschichte eingeht, wertet der Habsburger Kaiser Matthias als Kriegserklärung. Gewaltsam will er die protestantische Rebellion im Keim ersticken. Es beginnt der Dreißigjährige Krieg, der fast ganz Mitteleuropa in den Abgrund reißt. Für Deutschland wird er zu einem Trauma. "Dieser Krieg hat zweifellos sehr viel mehr als spätere Kriege - vielleicht mit Ausnahme der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert - tiefe Spuren in Deutschland hinterlassen", urteilt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität im Deutschlandfunk.

Instrumentalisierung der Religion

Ein explosiver Ursachen-Mix sorgt dafür, dass sich der Konflikt in Böhmen zu einem unkontrollierbaren Flächenbrand entwickelt. Während eine lang anhaltende Kältewelle mehrere Ernten zerstört, verbreitet sich in der Bevölkerung eine vom Aberglauben genährte Endzeitstimmung. Glaubensfragen sorgen für zusätzlichen Streit: Rund hundert Jahre nach Beginn der Reformation und der Kirchenspaltung stehen sich Protestanten und Katholiken in großer Rivalität gegenüber.

Dreißigjähriger Krieg - Prager Fenstersturz 1618
Mit dem Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 beginnt der Dreißigjährige KriegBild: picture-alliance/akg-images

Erschwerend kommen weltliche Interessen hinzu. "Die Religion ist für politische Zwecke instrumentalisiert worden", sagt Elisabeth von Hammerstein von der Hamburger Körber-Stiftung der Deutschen Welle. "Es ging mindestens ebenso viel um machtpolitische Faktoren", erläutert die Politikwissenschaftlerin. Der Kaiser und einige Landesfürsten ringen darum, wer die Geschicke im Reich lenkt. Obendrein schalten sich externe Kräfte ein. "Die Franzosen, die Habsburger, die Schweden sowie die Engländer und sogar die Osmanen hatten die Region als sehr relevant für ihre eigene Sicherheit gesehen und um die Vorherrschaft gekämpft oder darum, den Einfluss anderer Mächte zu verhindern." Religion sei das Öl gewesen, betont von Hammerstein, "das zu diesem Zweck ins Feuer gegossen wurde".

Neue Dimension des Schreckens

Historiker und Politikwissenschaftler sehen Parallelen zu aktuellen Konflikten wie in Syrien. Anfangs ging es in dem arabischen Land um einen lokalen Aufstand sunnitischer Kräfte gegen das alawitisch-schiitische Herrscherhaus Baschar al-Assads. "Der Konflikt ist dann schnell zu einem Stellvertreterkrieg geworden", sagt von Hammerstein. In Syrien seien es der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei, Russland "und nicht zuletzt die USA, die eigene Interessen verfolgen und die Lage komplizierter machen."

Auch der Dreißigjährige Krieg erreicht eine neue Dimension des Schreckens, als weitere Staaten militärisch eingreifen. Heerscharen enthemmter und nach Beute gierender Söldner aller Seiten ziehen zwischen den Schlachten wie apokalyptische Heuschreckenschwärme durch die Lande. Sie setzen Städte und Dörfer in Flammen, massakrieren Einwohner, vergewaltigen Frauen. Kinder bleiben nicht verschont. Unzählige Menschen verhungern oder fallen Seuchen wie der Pest zum Opfer, verbreitet von umherziehenden Heeren und zehntausenden verzweifelten Menschen auf der Flucht.

Spielball fremder Mächte

Die nackte Angst ums Überleben wird zum ständigen Begleiter der Menschen jener Zeit. Für sie gleicht jeder neue Tag einer hochgefährlichen Reise ins Unbekannte. Not, Elend und Hass formen eine verrohte Generation, die nur eines kennt - ein Leben im Krieg. Der Schriftsteller Hans-Jakob von Grimmelshausen  gibt zwanzig Jahre nach Kriegsende in seinem Roman "Simplicissimus" eine Ahnung von der Brutalität. Bei der Schilderung eines Überfalls auf einen Bauernhof lässt er seinen Ich-Erzähler sagen: "Unsere Magd ward im Stall dermaßen traktiert, dass sie nicht mehr daraus gehen konnt...den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul, und schütteten ihm weiten Melkkübel vor garstig Mistlachenwasser in Leib, das nenneten sie einen Schwedischen Trunk."

Ein historisches Zeugnis ist das Tagebuch des deutschen Söldners Peter Hagendorf. An einer Stelle listet er "ein hübsches Mädelein  als meine Beute" gleichrangig neben Geld und Kleidung auf. Einige Seiten später heißt es: "Diese Stadt [das Bistum Lüttich] hat 300 Kirchen und Klöster, 18 Städte, 1800 Dörfer. Die haben wir meistenteils alle geplündert oder ausgeraubt." Die Zahl der Toten des Dreißigjährigen Krieges schwankt in der Forschung zwischen drei bis neun Millionen, bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 15 bis 20 Millionen Menschen. In Relation ist die Opferzahl höher als die des Zweiten Weltkriegs. Nur wenige Landstriche werden nicht verwüstet; die Staatsordnung liegt in Trümmern. Während andere Länder prosperieren, erleidet Deutschland Niedergang und Depression.

Infografik Tote 30-Jährige Krieg DE

"Im sozialökonomischen Bereich wirft der Krieg Deutschland um Jahrzehnte zurück", sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Ein Krieg, bei dem ein Viertel bis ein Drittel der Menschen ausgelöscht werde, "ist so etwas wie eine Zäsur im Bewusstsein der Menschen." Die Erfahrung, zum Spielball fremder Mächte und Austragungsort ihrer Konflikte geworden zu sein, hat Deutschland geprägt. Experten wie Münkler sind sogar überzeugt, dass dieses Trauma dem Deutschen Reich und der Nazi-Diktatur half, ihre Angriffskriege im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu begründen.

Friedenslösung nach fünf Jahren Verhandlungen

Im Dreißigjährigen Krieg sind die Kriegsparteien ab Mitte des dritten Jahrzehnts des Gemetzels erschöpft oder geben sich mit ihren Einflussbereichen zufrieden. Fünf Jahre lang suchen sie im katholischen Münster und im protestantischen Osnabrück nach einer Friedenslösung. Zum ersten Mal setzten sich die Staaten Europas mit dem Kontinent als Ganzem auseinander; sie wollen gemeinsam Verantwortung übernehmen. Am 24. Oktober 1648 unterzeichnen die Kriegsparteien in Münster die ersehnten Friedensverträge: den Westfälischen Frieden. In der Geschichtsschreibung wird er als diplomatische Meisterleistung gefeiert, weil er weitreichende Kompromisse beinhaltet, etwa zur Religionsfreiheit.

Protestanten und Katholiken einigen sich darauf, "dass man religiöse Streitpunkte theologisch nicht klären kann, sondern dass man nach pragmatischen Lösungen sucht, fernab von der Diskussion, wer Recht hat", sagt von Hammerstein. Unter anderem legt der Frieden die Gleichstellung der christlichen Glaubensrichtungen fest. "Damit wurde die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen geschaffen, was nach vielen Jahrzehnten von Gewalt nicht möglich schien." Für die Einhaltung des Friedens sorgt ein System von Garantien. Sollte beispielsweise eine Partei die Verträge verletzen, haben die anderen Unterzeichner das Recht einzugreifen, um den Status Quo wiederherzustellen.

Massengrab aus dem Dreißigjährigen Krieg Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle/Saale
Restauratoren untersuchen Skelette, die aus einem Massengrab in Lützen bei Leipzig gehoben wurdenBild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Ferner wird die Souveränität der Kaisers beschnitten und den Fürsten mehr Macht zugestanden. Damit mutiert das Reich endgültig zu einem lockeren Staatenbund. Während in Ländern wie Frankreich die Zentralgewalt gestärkt wird, verläuft die Entwicklung in Deutschland gegenteilig. Der Machtzuwachs der Landesfürsten ist bis heute einer der Grundsteine der föderalen Ordnung der Bundesrepublik, in der die Ministerpräsidenten eifersüchtig über die Rechte wachen, die den Bundesländern zustehen.

Inspiration für heutige Friedensbemühungen

Der Westfälische Friede wird oft als Beispiel zur Lösung anderer Konflikte zitiert. Eine Blaupause auch für den Nahen Osten? Beim deutschen Historikertag 2016 sprach der damalige Außenminister und jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier davon, dass sich das Auswärtige Amt "Instrumente des Westfälischen Friedens daraufhin angeschaut hat, ob sie für heutige Friedensbemühungen unverändert relevant sind." Er betonte die wichtige Rolle internationaler Garantien und plädierte für einen "tabulosen Prozess des Auslotens". Ein arabischer Intellektueller habe zu ihm gesagt: "Wir brauchen einen Westfälischen Frieden für unsere Region."

Auch die Politikwissenschaftlerin von Hammerstein sieht den Westfälischen Frieden als Quelle der Inspiration. "Es gibt viele Anstöße, Ideen und kreative Lösungen, die der Frieden aufzeigt." Auf jeden Fall hat der Westfälische Frieden bewiesen, dass auch ein religiös, machtpolitisch und emotional extrem aufgeladener Krieg friedlich lösbar ist.

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur