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"Die Zeit des Luxus ist vorbei"

20. Dezember 2001

Landflucht war lange Zeit ein großes Problem in der Türkei. Immer wieder haben sich die Stadtväter von Istanbul den Kopf zerbrochen, wie sie die ungezügelte Zuwanderung in die Metropole am Bosporus stoppen können.

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Straßenszene in IstanbulBild: AP

Für Aufsehen sorgten Oberbürgermeister wie Bedrettin Dalan und Recep Tayyip Erdogan, als sie in den 80er und 90er Jahren mit einem "Visum" für Zuwanderer verhindern wollten, dass die Millionenstadt jährlich um die Einwohnerzahl einer mittelgroßen anatolischen Stadt zunimmt. Die Idee erntete belustigte Kommentare und verschwand wieder in den Schubladen.

Raus aus der Stadt

Was den Politikern nicht gelang, hat die vor einem Jahr begonnene Wirtschaftskrise, die von vielen als die schwerste in der Geschichte der türkischen Republik bezeichnet wird, still und leise angebahnt: Die Anzeichen für eine Umkehr der Landflucht mehren sich. Viele, die vor Jahren mit Sack und Pack den Verheißungen der Großstadt gefolgt waren, kehren in ihre Dörfer, in den Schoß der Großfamilie zurück. Die Glücklicheren unter ihnen beladen einen Möbelwagen mit dem, was ihnen aus besseren Zeiten übrig geblieben ist. Anderen reicht das Geld gerade noch für ein Busticket. Das anatolische Sprichwort "In Istanbul sind sogar Steine und Erde aus Gold" hat an Glanz verloren.

"Jeden Monat landen auf meinem Schreibtisch Hunderte von unzustellbaren Vollstreckungstiteln", sagt Ali Galip Yurduseven, Bezirksvorsteher im asiatischen Stadtteil Maltepe. Die Schuldner haben sich still und heimlich aus dem Staub gemacht. "Was soll ich machen?", werde er von ratlosen Hausbesitzern gefragt. "Mein Mieter ist verschwunden, ohne Miete und Strom zu bezahlen." Doch hart getroffen wurden nicht nur die, die ohnehin auf der untersten sozialen Stufe standen. Die Krise hat eine Wanderungsbewegung quer durch alle Bevölkerungsschichten in Gang gesetzt.

Zurück zur türkischen Lira

Wer durch Ulus, Etiler oder Akatlar, die "schickeren" Viertel auf der europäischen Seite streift, wird die reihenweise leer stehenden Wohnungen kaum übersehen. "Kiralik" (zu vermieten) oder "Satilik" (zu verkaufen) verkünden die Schilder in den Fenstern. Viele dieser "Bessergestellten", die es gewohnt waren, ihr Gehalt auf Dollar- oder D-Mark-Basis zu beziehen, haben sich nach preiswerterem Wohnraum umgesehen, seit viele von der Krise gebeutelte Unternehmen dazu übergegangen sind, auch ihre Führungskräfte wieder auf Lira-Basis zu entlohnen.

"Die Zeit des Luxus in den Großunternehmen ist vorbei", stellt Yücel Atis, Präsident des türkischen Verbandes für Personalmanagement (INKADE), fest. "Man zieht von den großen bekannten Plätzen wieder in bezahlbare Gegenden, fährt schlechtere Autos und stellt wieder zu angemessenen Gehältern Mitarbeiter ein." Krankenversicherungen, Handys oder andere Sonderleistungen wurden eingeschränkt, wenn nicht ganz aufgehoben, fand der Verband in einer dreimonatigen Untersuchung heraus.

Flucht vor der Wirtschaftskrise

Die Krise hat aber auch die lang erkämpfte Selbstständigkeit vieler kleiner Gewerbe treibender zunichte gemacht. Zu ihnen gehört der 35-jährige Mustafa Gümüs, den es vor 17 Jahren aus Kahramanmaras nach Istanbul gezogen hatte. Als es mit seiner Kleiderwerkstatt bergab ging und ihm die Schulden über den Kopf wuchsen, vertraute er sich einer Schleuserbande an, die ihn für 12.000 Mark (6135 Euro) nach Italien bringen sollte. Der Bus, in dem er sich mit anderen "Illegalen" wiederfand, wurde noch in der Türkei gestoppt.

Sein Schicksal, das die Zeitung "Star" ausführlich schilderte, steht stellvertretend für Tausende, die der Wirtschaftskrise in der Türkei auf diese Weise zu entkommen versuchen. Unter den Dutzenden von Flüchtlingen aus dem Irak, Afghanistan oder Pakistan, die jeden Tag von der Polizei aufgegriffen werden, sind fast immer auch Türken, die von einer neuen Existenz im Ausland träumen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres fing allein die Küstenwache 2565 "Illegale" ab, die mit Schiffen oder Booten über das Meer nach Griechenland oder Italien wollten. Unter ihnen waren 686 Iraker, 478 Afghanen, 89 Pakistaner - die größte Gruppe bildeten mit 864 aber Türken.