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"Die sind nicht anders als wir"

Ingrid Lommer 3. Oktober 2005

Berufsschüler aus Deutschland und Polen lernen in Wurzen gemeinsam zu arbeiten und Vorurteile zu überwinden. Nun bekommt das Projekt einen Preis gegen Rechtsextremismus und Gewalt.

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Brücken bauen - auch in den KöpfenBild: dpa

Wurzen ist nicht für seine Toleranz berühmt, auch nicht für seine Kekse, die schon zu DDR-Zeiten ein Verkaufsschlager waren. In den 1990er-Jahren machte sich die sächsische Kleinstadt im Gegenteil einen unrühmlichen Namen als Neonazi-Hochburg. Zwei ambitionierte Lehrer an der örtlichen Berufsschule wollen das ändern. Sie haben ein Jugendbegegnungsprojekt mit Berufsschülern aus Wurzen, Hannover und der polnischen Stadt Oscwiecim (Auschwitz) ins Leben gerufen. Die Schüler reparieren gemeinnützige Einrichtungen in ihren drei Heimatstädten - durch die gemeinsame Arbeit sollen Vorurteile abgebaut werden. Das Projekt wird im November (25.11.2005) mit dem Regine-Hildebrandt-Preis für soziales und politisches Engagement ausgezeichnet.

Ein Ossi, ein Pole und ein Wessi ziehen am selben Strang

Auf dem Gelände des "Netzwerks für demokratische Kultur" im sächsischen Wurzen dreht sich ein Zementmischer. Stützbalken liegen herum, Pflastersteine warten in einem Korb auf ihren Einsatz. Die geschäftigen Arbeiter dazwischen sind 15 bis 18 Jahre alt. Drei von ihnen, Franz aus Wurzen, Rafael aus Auschwitz und Kevin aus Hannover, machen eine Pause. Kevin erzählt: "Jeder hilft jedem, alle arbeiten, jeder hat was zu tun. Wenn jemand fertig ist mit seinen Aufgaben, fängt er an, bei den anderen mitzuhelfen."

Ein Ossi, ein Pole und ein Wessi renovieren gemeinsam ein Gebäude - ein ungewöhnliches Bild in Wurzen. Inszeniert hat das Projekt Gabriele Hertel, eine Lehrerin an der örtlichen Berufsschule: "Es sind Schüler, die entweder keinen Schulabschluss haben oder einen Schulabschluss, aber keine Lehrstelle."

Die Sozialhilfeempfänger von morgen, lauten die Unkenrufe. Hoffnungslose Fälle, die der Mühe nicht wert sind. Doch Gabriele Hertel sieht das anders. Jedes Jahr bringt sie je 12 Jugendliche aus Wurzen, Hannover und Auschwitz in einem Projekt zusammen. Zweimal im Jahr fahren die Teilnehmer nach Auschwitz. Dort helfen die Schüler bei Reparaturen an der KZ-Gedenkstätte und sprechen mit Zeitzeugen. Nur einer von Hertels Kollegen, Jens-Uwe Vogel, sah die Notwendigkeit eines solchen Projekts ein: "Mitte der 1990er-Jahre gab es massive Schwierigkeiten in den Berufsvorbereitungsjahren, Unterrichtsthemen aus dem Bereich Sozialkunde 1933 bis 1945 zu vermitteln. Da gab's solche Probleme, dass der Unterricht eigentlich gar nicht in der eigentlichen Form durchgeführt werden konnte, so dass die Lehrer nach alternativen Wegen gesucht haben."

Bei den letzten Landtagswahlen gewann die rechtsradikale Partei NPD 11,9 Prozent der Wurzener Stimmen und lag damit etwas über dem Landesdurchschnitt in Sachsen. Und auch an der Berufsschule haben die Lehrer mit Rechtsradikalismus zu kämpfen. NPD-Broschüren machen die Runde unter den Schülern, im Sozialkunde-Unterricht verbreiten Rechte die "Auschwitz-Lüge" und schwadronieren über arische Überlegenheit. Andersdenkende Schüler oder solche mit Migranten-Hintergrund wurden auf dem Heimweg schon mal verprügelt.

Auf Anregung von Gabriele Hertel verbietet mittlerweile die Hausordnung der Schule das Zur-Schau-Stellen von nationalistischen Symbolen auf dem Schulgelände. Nicht alle Schüler halten sich daran. Wie fährt man mit solchen Schülern nach Auschwitz? "Wir haben festgestellt, dass eben gerade Schüler, die diesem rechten Gedankengut doch näher verbunden sind, dann ziemlich still werden und zum Nachdenken kommen. Mehr kann man wohl am Anfang nicht verlangen", sagt Jens-Uwe Vogel.

Ein guter Anfang

Zum Nachdenken kommen, über Verantwortung reflektieren - Dinge, die Jugendliche wie Franz, Rafael und Kevin selten tun können. Mörtel, Holz, Zement, Beton, damit sind sie täglich konfrontiert. Mit Politik und Geschichte nicht. Auf der Baustelle überdenken der Ossi, der Pole und der Wessi Bilanz ihre bisherigen Eindrücke des Austauschprojekts. Franz glaubt, dass es einen guten Eindruck macht, an einem solchen Projekt teilzunehmen. Rafael aus Polen freut sich, den Alltag mit den Jugendlichen aus Wurzen und Hannover zu teilen. Und Kevin meint: "Ich und meine Freunde, wir haben zwei von den polnischen Schülern kennen gelernt, die genauso denken wie wir, also, die sind nicht anders als wir."

Für Lehrer Jens-Uwe Vogel sind solche Sätze schon mal ein Anfang, der ausgebaut werden soll. Unter anderem mit dem Preisgeld des Regine-Hildebrandt-Preises - immerhin 10.000 Euro. Die sollen die Zukunft des Projekts für die nächsten drei Jahre sichern.