Libanon nach der Müllkrise
29. September 2015Ali telefoniert ununterbrochen mit seinen Freunden. Er legt auf, wählt die nächste Nummer: "Hallo Jinan, wo bist du? - Gut, dann pass auf dich auf." Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickt der 23-Jährige auf die Hundertschaften der Polizei. Die Beamten haben sich vor der Amin-Moschee im Zentrum von Beirut postiert. Ein Meer aus schwarzen Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken bildet eine Drohkulisse. Vor einer Stunde erst, erzählt Ali, wäre eine Gruppe von jungen Männern hier vorbeigekommen und habe friedliche Demonstranten wie ihn angegriffen. "Ein paar von denen hatten auch Messer dabei. Die Polizei hat nichts getan", beschreibt er die Situation. Die Angreifer seien Unterstützer von Parlamentssprecher Nabil Berri, der zur schiitischen Amal-Bewegung gehört. Sie fühlt sich offenbar durch die Proteste gegen die gesamte politische Klasse im Libanon provoziert. Erst zerstörten Mitglieder der Bewegung ein Protestcamp, dann machten sie Jagd auf Demonstranten und Journalisten.
Noch vor drei Wochen herrschte auf dem Märtyrerplatz vor der Moschee große Aufbruchsstimmung. Zehntausende protestierten dort gegen korrupte Politiker und die anhaltende Müllkrise im Land. Die Kundgebungen hatten Volksfestcharakter, mit lauter Musik und traditionellen Dabketänzen. Doch die Euphorie schwindet zusehends, denn die Forderungen der Demonstranten verhallen ungehört und entsprechend sinken die Teilnehmerzahlen. Hinzu kommt, dass die Proteste seit Ende August meist in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit libanesischen Sicherheitskräften endeten. Selbst friedliche Demonstranten wurden von Polizisten verprügelt und festgenommen. Vielleicht einer der Gründe, warum es immer weniger auf die Straßen zieht.
Immer weniger Demonstranten
Droht die libanesische Anti-Korruptionsbewegung jetzt schon zu scheitern? Die Initiatoren der Proteste haben sich ambitionierte Ziele gesteckt: eine angemessene Müllentsorgung, die Absetzung des Umweltministers, Untersuchung der Polizeigewalt während der Demonstrationen und Neuwahlen des Parlaments. "Ihr stinkt" nennen sich die Aktivisten – ein mahnender Fingerzeig in Richtung der libanesischen Politiker, die sie nicht nur für die Müllkrise verantwortlich machen.
Dass es eine Reformbewegung im Libanon schwer haben wird, das wusste die Gruppe von Anfang an: "Obwohl der Libanon eine Demokratie sein will, ist er in Wahrheit eine Oligarchie. Wir als Bewegung haben das System gestört, nun will man uns mit Polizeigewalt zurückdrängen", sagt "Ihr stinkt"-Organisator Wahid Al-Asmar.
Warlords in politischen Spitzenpositionen
Ein Vierteljahrhundert nach dem libanesischen Bürgerkrieg ist das Land politisch und gesellschaftlich tief gespalten. "In dem Friedensvertrag, dem sogenannten Taif-Abkommen, wurde keine Seite für den Krieg verantwortlich gemacht. Viele Warlords aus dieser Zeit sind heute immer noch an der Macht, als Vorsitzende politischer Parteien im Libanon", sagt Maha Yahya, Libanonexpertin des Carnegie-Nahostzentrums in Beirut. Nicht nur ehemalige Milizenführer, auch einflussreiche Familienclans bestimmen die Staatsgeschäfte und bereichern sich an der Not der Bevölkerung. "Die politischen Eliten behandeln staatliche Institutionen als wären sie ihr Privateigentum. Aus diesem Grund haben wir nur beschränkten Zugang zu Wasser und Elektrizität. Einige haben sogar aus der Müllkrise Profit geschlagen", so Yahya. Schlussendlich führte das politische Ränkespiel gar zu einer Paralysierung der Regierung. Das Resultat: Seit eineinhalb Jahren können sich die Politiker nicht auf einen neuen Präsidenten einigen, der aus Proporzgründen ein Christ sein muss. Auch ein neues Gesetz für die längst überfälligen Parlamentswahlen steht noch aus.
Um die Gemüter der Libanesen zu beruhigen, legten sich die Minister im September auf einen Aktionsplan in Sachen Müll fest. Doch anstatt Zuspruch erntete die Maßnahme nur Hohn und Spott der "Ihr stinkt"-Aktivisten. Vor allem, da auch eine temporäre Öffnung der Naameh-Müllhalde vorgesehen ist. Das ist genau die Deponie, die vor zwei Monaten geschlossen wurde und weswegen sich die Abfallberge in Beirut und Umgebung auftürmten. "Wir werden weiterhin für eine angemessene Lösung der Müllkrise auf die Straßen gehen. Danach wollen wir Schritt für Schritt unsere Forderungen an die Regierung abarbeiten", sagt Al-Asmar.
Zersplitterung der Bewegung
Fraglich ist dabei nur, ob die "Ihr stinkt"-Kampagne an ihrer Agenda zusammen mit den anderen zivil-gesellschaftlichen Initiativen festhalten kann, die sich im Zuge der Müll-Proteste neu gebildet haben. Denn kleinere Gruppen fordern frei nach dem Motto "Alles oder Nichts": Lösung aller infrastrukturellen Probleme, politische Transparenz bis hin zum Sturz des bestehenden politischen Systems. "Wir sind keine Dogmatiker. Wir brauchen die Vielfalt in der Bewegung. Dennoch geben wir den verschiedenen Gruppen zu verstehen, dass sie ihre individuellen Forderungen erst einmal hinten anstellen müssen", so Al-Asmar.
Yahya sieht die Zersplitterung der Bewegung kritischer: "Die 'Ihr stinkt'-Aktivisten sind jung und verfügen nicht über die organisatorischen und finanziellen Kapazitäten der politischen Klasse. Sie müssen die Bewegung einen. Es gilt, ihre politische Glaubwürdigkeit zu steigern und auf neue Reformen zu drängen."
Dabei stellt sich die entscheidende Frage: Könnte eine säkulare politische Kraft im Libanon überhaupt Erfolg haben? Dass "Ihr stinkt" sich komplett gegen das konfessionalistische System im Libanon stellt, ist nämlich ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite findet das Konzept vor allem unter der mittelständischen Nachkriegsgeneration großen Zuspruch: "Wir fühlen uns in erster Linie als Libanesen und dann erst unserer Religionsgemeinschaft zugehörig. Konfessionalismus muss aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden", findet Al-Asmar.
Auf der anderen Seite hat die Koppelung der Religion an die Politik im Libanon Bestand. In der Verfassung ist sogar eine 50:50 Repräsentationsquote von Christen und Muslimen im Parlament festgelegt. In diesem Rahmen haben sich über Jahrzehnte hinweg klientelistische Machtstrukturen auf nationaler und internationaler Ebene gefestigt. "Kann sich die Bewegung halten, dann wird sich die politische Klasse dagegen zu Wehr setzen. Denn sie hat viel zu verlieren. Um eine unabhängige politische Kraft aufzubauen, muss man nicht nur Machtstrukturen, sonder auch Machtbeziehungen in der Gesellschaft verändern und das wird einige Zeit brauchen", so Yahya.