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Die COVID-19-Inzidenz: Die Zahlen verstehen

14. Oktober 2020

Erst war die Reproduktionszahl in aller Munde, nun ist es die Inzidenzzahl. Wir versuchen, die Coronapandemie messbar oder vorhersehbar zu machen. Doch wofür stehen die Grenzwerte eigentlich?

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Bild: picture-alliance/PhotoAlto/M. Constantini

Bis vor kurzem drehte sich alles um die Reproduktionszahl. Es galt, den R-Wert unter der kritischen 1er-Schwelle zu halten. 

Denn ist die Reproduktionszahl größer als 1, überträgt jeder Infizierte die Erkrankung an mindestens eine weitere Person - das Virus breitet sich aus. Ist die Zahl kleiner als 1, stecken sich immer weniger Menschen an und die Zahl der Infizierten geht zurück. Um die Verbreitung eines Virus einzudämmen, muss seine Reproduktionszahl also kleiner als 1 werden. Mathematisch ausgedrückt: R<1.

So weit so gut. Derzeit liegt der 4-Tages R-Wert bei 1,18, der 7-Tages-Wert bei 1,20 (Stand 13.10.).

Aber wen interessiert heute schon noch R? 

 

What's the reproduction number R?

Inzidenz: Sprechen wir epidemiologisch

Es gibt ein neues Maß aller Dinge bzw. der Pandemie, so scheint es: die Inzidenzzahl.

In der Epidemiologie drückt Inzidenz aus, wie häufig neue Infektionen und Erkrankungen über einen bestimmten Zeitraum auftreten. Die Zahl beschreibt etwa das Risiko, unter dem Menschen erkranken, gemessen in einem bestimmten Zeitraum. Man spricht dann auch von der Neuinfektionsrate. 

In Deutschland gibt die "Sieben-Tage-Inzidenz" an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab (genau genommen: Wie viele Menschen bei einem PCR- oder Antigen-Test  ein positives Ergebnis hatten).

Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen - dazu gehört zum Beispiel eine ausgeweitete Maskenpflicht, Sperrstunden, Alkoholverbote, Beschränkungen der Personenanzahl beim Zusammentreffen von Gruppen oder bei Veranstaltung und privaten Feiern, Reisebeschränkungen sowie das viel diskutierte Beherbergungsverbot.

Was bedeutet "zu hoch"?

Diese Schwelle variiert, so liegt der Grenzwert in den meisten Landkreisen bzw. Bundesländern bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern. In Bayern wurde ein sogenannter Frühwarnwert eingeführt: Ab 35 Neuinfektionen sind die örtlichen Gesundheitsämter verpflichtet, das Gesundheitsministerium über die Ursache der steigenden Fallzahlen und über lokale Gegenmaßnahmen zu informieren.

Die aktuellen Zahlen lassen sich auf dem COVID-19-Dashboard des Robert-Koch-Instituts einsehen. 

Dabei ist die allgegenwärtige 50 zwar erfunden, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Im Mai wurde diese Schwelle als eine Art Notbremse in Form eines Corona-Inzidenzwertes festgelegt.

Corona-Test für Zuhause?

"Das ist die Zahl, an der die Gesundheitsämter aufhören, jede Infektion nachvollziehen zu können und ein richtiges Tracing der Vorinfizierten, der anderen Infizierten machen zu können", sagte der Vorsitzende des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.   Sobald diese Zahl überschritten sei, müsse man etwas tun. "Das ist kein Alarmismus, sondern das ist eine vernünftige gesundheitspolitische Maßnahme", so Montgomery weiter.

Auch das RKI verweist neben dem R-Wert auf die Wichtigkeit dieser Kennzahl. "Die absolute Zahl der Neuinfektionen muss klein genug sein, um eine effektive Kontaktpersonennachverfolgung zu ermöglichen und die Kapazitäten von Intensivbetten nicht zu überlasten", heißt es auf der Webseite.

Mehr Tests, mehr Fälle? 

Indes sieht Stefan Willich, Direktor am Institut für Epidemiologie der Berliner Charité, die 50 für nicht mehr zeitgemäß. Aus seiner Sicht fehle für die statistische Einschätzung der Corona-Zahlen ein "vernünftiger Bezugsrahmen", sagte Willich im RBB-Inforadio.

Vor fünf Monaten wurde der Schwellenwert von 50 Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 Einwohner definiert - "das schien damals präzise, war aber eigentlich immer nur ein grober Anhaltspunkt", so Willich. Jetzt werde mehr getestet als im Frühjahr. "Das heißt, allein wegen der Anzahl der Testung ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man hier diese Zahl mal überschreitet. Dann gibt es keinen vernünftigen Bezugsrahmen."

Nach Willich müssten sich die Zahlen auf repräsentative Stichproben beziehen, die jetzt erst beginnen. "Ich denke, das wird in den nächsten Wochen auch auf der Basis von neuen Stichproben und Erhebungen noch einmal anders definiert werden müssen", sagte Willich. Damit könnten die Werte besser und realistischer eingeordnet werden. 

Der Epidemiologe geht davon aus, dass allgemeine Schutzvorkehrungen wie Abstand halten, Tragen von Mund-Nase-Schutz und die Nachverfolgung von klinisch erkrankten Fällen und ihren Kontakten längere Zeit notwendig sind.

"Das werden die Stützpfeiler einer langfristigen Strategie sein. Wir müssen längerfristig mit diesen Maßnahmen gut leben, dann wird das Pandemiegeschehen auch im Griff bleiben." Zudem müssten Risikopatienten in Alters- und Pflegeheimen oder in Krankenhäusern besonders gut geschützt werden. 

Kein starrer Indikator

Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, kritisiert die allgegenwertige Inzidenzzahl.

"Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, das führt zu falschem Alarmismus", sagt Gassen gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Selbst 10.000 Infektionen täglich wären kein Drama, wenn nur einer von 1000 schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten."

Gassen reagierte damit auf Aussagen von Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, der vor einem Kontrollverlust gewarnt hatte. Im Frühjahr habe es bei 4000 Neuerkrankten täglich bis zu 150 Corona-Tote gegeben, erläuterte Gassen. "Das ist vorbei. Jetzt sind es einstellige Sterbezahlen. Solange das Verhältnis so bleibt, sind Neuinfektionen im fünfstelligen Bereich kaum relevant." Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei auch in Herbst und Winter nicht abzusehen, sagte der Mediziner. 

Dem widersprach indes Montgomery: "Die Krankheit läuft ja über etwa vier bis sechs Wochen, bis jemand stirbt. Das heißt, wir sehen heute mit den neu festgestellten Infektionen das Infektionsgeschehen von vor einer Woche". Erst in vier oder fünf Wochen sei mit steigenden tödlichen Verläufen auf den Intensivstationen zu rechnen, betonte er: "Deswegen halte ich es noch für viel zu früh für diese Aussage."

Ein Mitarbeiter der Johanniter-Unfall-Hilfe nimmt für einen Corona-Test einen Abstrich von einer Frau.
Mehr Tests = mehr Corona-Fälle? Nicht unbedingt. Bild: Moritz Frankenberg/dpa/picture-alliance

84 statt 50

Gassen plädiert unterdessen dafür, das Infektionsgeschehen stärker nach Altersgruppen aufschlüsseln, um gezielter reagieren zu können. "Ich bin davon überzeugt, dass wir mit einer vernünftigen Kommunikation durchaus wieder mehr Normalität zulassen können - mit der Möglichkeit, die Bremse rasch wieder anzuziehen."

Konkret forderte der Kassenarztchef, die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, ab der Kreise und Städte zu Risikogebieten erklärt werden, deutlich anzuheben: Die Zahl 50 stamme aus einer Zeit mit wöchentlich 400.000 Tests und hoher Positiven-Rate.

Inzwischen werde dreimal so viel getestet bei viel weniger Test-Positiven. "Die Zahl muss den Entwicklungen angepasst werden, unter Berücksichtigung der niedrigeren Positivquote käme man aktuell auf einen Schwellenwert von 84 pro 100.000." Als starrer und alleiniger Indikator für das Ergreifen einschneidender Maßnahmen sei die Zahl ohnehin ungeeignet.

Grenzüberschreitend

Noch verzwickter wird es, wenn man über die deutsche Landesgrenze hinausschaut. Auch hier spielt die 50 wieder eine Rolle, wenn es zur Einstufung der Risikogebiete kommt. 

Diese erfolgt nach einer Analyse und Entscheidung durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.

Infografik: COVID-19-Fälle (14-Tage-Rate) KW 39 und 40 DE

Die Entscheidung basiert auf einer zweistufigen Bewertung: Zunächst wird festgestellt, in welchen Staaten/Regionen es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gab. In einem zweiten Schritt wird nach qualitativen Kriterien festgestellt, ob für Staaten/Regionen, die den genannten Grenzwert nominell unterschreiten, dennoch die Gefahr eines erhöhten Infektionsrisikos vorliegt. Die aktuelle Liste lässt sich hier einsehen

Auch auf der Webseite des "European Centre for Disease Prevention and Control" gibt es ein Dashboard, auf dem die Inzidenzzahl ersichtlich ist - allerdings für einen Zeitraum von 14 anstatt 7 Tagen pro 100.000 Einwohnern.

Die europäische Seuchenschutzbehörde weist jedoch auch ausdrücklich darauf hin, dass Vergleiche zwischen den einzelnen EU-Staaten äußerst schwierig seien, da die Daten überall anders erhoben würden. Zum Beispiel ist die Anzahl der Tests auf das Coronavirus von Land zu Land sehr unterschiedlich. Das wirke sich natürlich auf die gemeldeten Fallzahlen aus. 

Rote Ampel
Die EU-Corona-Ampel soll Reisenden helfen, den Überblick über das Infektionsgeschehen in den verschiedenen Ländern zu behaltenBild: Marko Lukunic/PIXSELL/picture-alliance

Corona-Ampel für mehr Durchblick 

Abhilfe soll nun die neue Corona-Ampel schaffen. Um einen besseren Überblick übers Corona-Infektionsgeschehen zu schaffen, wird die Europäische Union in grüne, orangene und rote Zonen unterteilt. Zusätzlich gibt es graue Regionen, wenn gegebenenfalls nicht genügend Daten vorliegen.

Auch hier spielt die 50 wieder eine Rolle - allerdings in Kombination mit der Testquote: Rot ist ein Gebiet dann, wenn die Inzidenz über 50 liegt und die Testquote über vier Prozent. Oder die Inzidenz liegt über 150 pro 100.000 Bewohnern in den vergangenen 14 Tagen.

Entscheidend für die Einteilung in Risikogebiete und ungefährliche Regionen sollen künftig zwei Kriterien sein: Die Rate neuer Infektionen (Inzidenz) für 100.000 Bewohner in den vergangenen 14 Tagen und die Quote der positiven Tests aus allen durchgeführten Coronatests. 

Mehr zur Corona-Ampel erfahren Sie hier: EU führt Corona-Ampel ein

Hannah Fuchs Multimedia-Reporterin und Redakteurin mit Fokus auf Technik, digitalen Themen und Psychologie.