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Unsichere Mittelschicht

Diego Zúñiga/Violeta Campos17. Januar 2013

Die chilenische Mittelschicht ist heute besser gestellt als in früheren Jahrzehnten. Doch im lateinamerikanischen Vorzeigeland für Wirtschaftsentwicklung ist der Wohlstand teuer erkauft, warnen Experten.

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Fußgängerzone und Einkaufsstraße in Santiago de Chile (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Sie leben in ruhigen, sicheren Wohnvierteln, ihre Häuser und Wohnungen sind solide gebaut, ihre Haushalte mit Elektrogeräten ausgestattet. Die Kinder besuchen private oder staatliche Schulen von guter Qualität, die Familien haben Zugang zu Kabelfernsehen und Internet - sowie insbesondere zu Bankkrediten, die diesen Luxus ermöglichen. So kann die allgemeine Situation der Angehörigen der chilenischen Mittelschicht beschrieben werden. Studien der Universität von Chile und der Alberto Hurtado Universität zufolge zählen sich 84 Prozent der Bevölkerung dieses südamerikanischen Landes selbst zur Mittelschicht.

Doch die offiziellen Zahlen zeichnen ein anderes Bild. Der Staat definiert die Zugehörigkeit zur Mittelschicht über ein monatliches Einkommen von mindestens 140 bis 380 Euro. 380 Euro entspricht dem Gehalt eines ungelernten Arbeiters, der den staatlich festgesetzten Mindestlohn bekommt. Demnach gehören die Bedürftigen nicht zur Mittelschicht - genauso wenig wie Großfamilien mit einem einzigen Ernährer, da diese größtenteils staatliche Sozialleistungen beziehen.

Im lateinamerikanischen Vergleich gilt Chile als Vorzeigemodell für Wirtschaftsentwicklung. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwartet in ihrem aktuellen "Economic Outlook" für Chile ein Wirtschaftswachstum von 5,1 Prozent im Jahr 2013, nach dem erfolgreichen Jahr 2012 mit einem Wachstum der chilenischen Wirtschaft von 4,4 Prozent. Damit weist der südamerikanische Staat unter allen 34 OECD-Mitgliedsländern die höchsten Zuwachsraten auf. Hier setzt jedoch auch die Kritik der Bevölkerung an: Die Mittelschicht werde vom Staat vergessen. Die Anstrengungen zur Überwindung der Armut im Land gehen zu Lasten eben jener sozialen Schichten, die zwar nicht in bitterster Armut leben, aber auch nicht über besonders viel Geld verfügen.

Viña del Mar in Chile (Foto: MARTIN BERNETTI/AFP/Getty Images)
Mittelklassewohnort in Chile: Luxus, auf Sand gebautBild: MARTIN BERNETTI/AFP/Getty Images

Der Soziologe Alberto Mayol von der Universität von Chile ist davon überzeugt, dass "die Destabilisierung und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen das zentrale Merkmal der chilenischen Mittelschicht sind. Heutzutage verdient ein Angehöriger dieser Schicht zwar mehr als zuvor, doch seine soziale und wirtschaftliche Sicherheit ist geringer. Die Ungewissheit bestimmt seine Existenz."

Anfällig für Arbeitslosigkeit

Die chilenische Mittelschicht bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts heraus, als der Handel mit Salpeter im Norden des Landes boomte. Das veränderte die chilenische Wirtschaftsstruktur und ermöglichte die Entstehung neuer sozialer Schichten, die sich aus Akademikern, Handwerkern und kleinen Eigentümern zusammensetzten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts stiegen auch die Verwaltungsangestellten in diese Schicht auf.

Fußgänger in Chile gehen an einer Bank-Filiale vorbei (Foto: MARTIN BERNETTI/AFP/Getty Images)
Kreditfinanziert: Konsum der MittelschichtBild: MARTIN BERNETTI/AFP/Getty Images

"Mit dem Stillstand des Entwicklungsmodells seit den 1960er Jahren hat die Mittelschicht in Chile ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung jedoch größtenteils an die Unterschicht eingebüßt", so die Soziologin Emmanuelle Barozet von der Universität von Chile im DW-Interview. "Anschließend setzte die Diktatur von Augusto Pinochet ein politisches, wirtschaftliches und soziales System ein, das auf den Markt ausgerichtet war. Die Mittelschicht musste sich unter großen Schwierigkeiten in der Privatwirtschaft zurechtfinden."

In einer aktuellen Studie kommt die Forscherin zu dem Schluss, dass 43 Prozent der chilenischen Bevölkerung der Mittelschicht zuzurechnen sind. Zur Unterschicht zählen demnach 47 Prozent der Chileninnen und Chilenen, und die Vermögendsten machen die restlichen zehn Prozent aus. "Das mittlere Einkommen ist in Chile sehr niedrig, wodurch der Abstand zwischen den unteren Schichten und der Mittelschicht sehr gering ist. Ihre prekäre soziale Stellung macht sie anfällig für einen sozialen Abstieg durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersarmut."

Bildung als Ausweg

Mayol erklärt, dass in Chile "ein gesellschaftlicher Konsens herrscht, nicht über Geld zu reden. So werden die Ärmsten einerseits nicht gedemütigt - und andererseits der soziale Konflikt nicht geschürt." Wer sich als Angehöriger der Mittelschicht bezeichne, könne Konflikte zwischen den Klassen besser vermeiden. In Ländern mit einer starken Mittelschicht sei diese relativ immun gegen Armut, so der Wissenschaftler. Doch in Staaten, in denen die Reichen sehr reich und die Armen sehr arm sind, in denen die Mittelschicht also dem mathematischen Durchschnitt der Extreme entspricht, führen soziale Unterschiede zu großen Ungerechtigkeiten, erläutert Mayol. "Das führt zu großen gesellschaftlichen Problemen: Unsicherheit, Selbstmord, Werteverfall."

Für die chilenische Mittelschicht ist Bildung ein Ausweg. Sie verspricht soziale Festigung und bietet Entwicklungschancen. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts entfernte sie sich durch Schulbildung von der Unterschicht. Doch gerade dieser mittlere Sektor empfinde das Bildungsmodell als ungerecht, sagte Barozet der DW: "Es sind die Aufstrebenden, die an ihren Verdienst glauben und mit ansehen müssen, wie die Entlohnung hinter dem entsprechenden Aufwand ausbleibt". Folglich entsteht Unzufriedenheit. Die hat sich in den vergangenen Jahren massiv in den Protesten von Schülern, Studenten und Lehrern gegen das teure und profitorientierte Bildungswesen in Chile gezeigt.

Zehntausende Menschen bei einer Protestdemonstration gegen das teuere Bildungssystem in Chile (Archivfoto: picture-alliance/dpa)
Massenproteste gegen das teuere Bildungssystem in ChileBild: picture-alliance/dpa

Chile und Deutschland im Vergleich

Eine Studie der Universität Bremen und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, dass die deutsche Mittelschicht zwar schrumpft, ihr Abstand zu den sozial schwächeren Schichten aber immer weiter zunimmt.

Barozet vergleicht diese Entwicklungs mit Chile und weist darauf hin, "dass diese Trennung in Chile in den 1980er Jahren erfolgte und sich in den folgenden Jahrzehnten gefestigt hat. Aber: Die deutsche Mittelschicht ist viel wohlhabender als die chilenische, deren mittlere und untere Schicht nur über ein begrenztes soziales Netz verfügen."

Die Expertin führt weitere Unterschiede an: "Ob man in Chile zur Oberschicht gehört, hängt nicht nur von den Berufsabschlüssen ab, die man vorweisen kann, sondern auch von Eheverbindungen, vom Erbe und von den sozialen Netzwerken." Es genüge nicht, einen guten Universitätsabschluss zu besitzen. Gleichzeitig sei in Deutschland das soziale Netz viel engmaschiger, gibt Barozet zu bedenken. "In Chile gibt es keine soziale Solidarität. Jeder bezahlt für sein Studium, seine Gesundheit und seine Altersrente. Wer nicht zahlen kann, erhält ein Produkt von schlechter Qualität. Kann man in diesem Fall von sozialer Solidarität sprechen?"