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Aufgewacht in einem anderen Land?

3. Dezember 2002

- "Polityka" geht dem "politischen Radikalismus" in Polen auf den Grund

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Warschau, 30.11.2002, POLITYKA, poln., Nr. 48

Statistisch gesehen sind die Radikalen heute die stärkste Kraft in Polen. Bei den Wahlen in die Woiwodschaftsparlamente, die die Parteipräferenzen gut widerspiegeln, konnten die Selbstverteidigung und die Liga Polnischer Familien, zwei Gruppierungen, die als radikal betrachtet werden, insgesamt 33 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Mehr also als die SLD. Ist es denn ein anderes Land, in dem wir nach den letzten Wahlen aufgewacht sind?

JANINA PARADOWSKA

Vor einem Jahr waren sich alle darüber einig, dass das neue Parlament die in der Gesellschaft herrschenden Meinungen besser widerspiegelt: radikale Parteien gibt es schließlich in jedem europäischen Land und sie werden teilweise sogar von bis zu 20 Prozent der Bevölkerung unterstützt. (...) Während jedoch eine 15- bis 20prozentige Unterstützung für die Radikalen als Grenze angesehen werden kann, ist das eine Drittel der Stimmen bei den letzten Wahlen bereits eine neue Qualität. Was ist geschehen?

Der große Wahlverlierer ist das Bündnis der Demokratischen Linken. Das Bündnis verlor innerhalb eines Jahres die meisten Wähler und hatte schon lange nicht mehr ein so schlechtes Ergebnis vorzuweisen (knappe 25 Prozent bei den Wahlen in die Woiwodschaftsparlamente gegenüber 41 Prozent bei den Parlamentswahlen). Kapital geschlagen aus dem Zerfall der SLD-Wählerschaft hat vor allem die Selbstverteidigung, aber auch die Liga Polnischer Familien. Die Soziologen stehen auf dem Standpunkt: Es siegt derjenige, der die gesellschaftliche Unzufriedenheit besser zum Ausdruck bringt. Jahre lang war in dieser Hinsicht die SLD der Meister, insbesondere zu der Zeit, als sie sich in der Opposition befand. Ihre jetzigen Nachfolger sind nicht schlecht. Die Ablehnung der größten Regierungspartei (Verlust von über zwei Millionen Stimmen) ist nach einem Jahr wesentlich stärker als die der AWS (Wahlaktion Solidarnosc - MD) nach einem Jahr der Regierung Buzek, wofür Direktwahlen der Stadtpräsidenten (Oberbürgermeister - MD) ein endgültiger Beweis waren. Gegen die Regierung und den Premierminister zu stimmen und der Linken ihre bisherigen Hochburgen zu nehmen ist zu einer wirksamen Wahllosung geworden.

Partei wie jede andere?

Die Radikalen ließen dieses Jahr nicht ungenutzt und andere erleichterten ihnen diese Aufgabe. Noch vor den Parlamentswahlen 2001 schämte man sich zu sagen, man wolle die Selbstverteidigung wählen. Jetzt wird Leppers Partei durch die Mehrheit der politischen Kräfte, die mit ihr Bündnisse schließen, legitimiert. Die Selbstverteidigung ist zum Bestandteil der normalen politischen Landschaft geworden, was allerdings in Europa nicht die Norm ist. In Europa ist es eher üblich, antidemokratische, außerhalb des Systems stehende Kräfte in die Isolation zu drängen. Bei uns ist es nach dem Motto, jedem Wähler und jeder Wählerstimme gebühre die gleiche Achtung, keine Schande, Bündnisse mit Lepper zu schließen. Das derzeitige Spektakel, das die SLD bietet, die sich in die Arme der Selbstverteidigung wirft, nur um die Macht in den Woiwodschaften zu übernehmen, ist das beste Beispiel dafür. Denn die Folge wird nicht die Zivilisierung von Leppers Partei sein (diese Argumente haben sich im vergangenen Jahr stark abgenutzt), sondern die Destruktion der Regierung. Die Selbstverwaltung weiß sich hervorragend zu helfen, indem sie gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems steht. Über ihre Kaderreserven berichteten wir in dieser Zeitung mehrfach. Es sind Leute, die vor allem das Ziel verfolgen, eigene Interessen wahrzunehmen. Das ist ihr Verständnis von Politik und nichts weist darauf hin, dass sich daran etwas ändert. Es sei denn zum Schlechteren. (...)

Die Selbstverteidigung hat also die Legitimation einer normalen Gruppierung erhalten, für die man stimmt wie für jede andere. Anderen hat sie voraus, dass sie sich nicht die Mühe macht, sich die komplizierte gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation genauer anzusehen. Ihre Rezepte sind einfach, was auch deutlich wird, wenn man sich ihre parlamentarische Arbeit - die weniger spektakuläre - ansieht, die in Gesetzesentwürfen oder Beschlüssen zum Ausdruck kommt.

Die Selbstverteidigung hat seit der Zeit, da sie im Sejm vertreten ist, 21 Gesetzesinitiativen unterbreitet. Sie betreffen unter anderem die Festlegung einer sozialen Mindestgrenze, die Unterordnung der Nationalbank Polens unter die Regierung, das Arbeitsverbot für die EU-Unterhändler in Institutionen der Europäischen Union, die Offenlegung des Vermögens, die Beendigung der Privatisierung, vor allem aber den Verkauf von Unternehmen an das Ausland, die Schaffung von Woiwodschaften in Mittelpommern sowie die Herstellung umweltfreundlicher Brennstoffe. Die finanziellen Folgen sind nicht berechnet worden, begründet wird es immer nur damit, wie sehr das dem armen Menschen und der verfallenden Wirtschaft doch zugute kommen wird. Recht unkompliziert sind auch die Gesetzentwurfe, die die Selbstverteidigung unterbreitet: es geht dabei um die Berufung außerordentlicher Kommissionen (zur Untersuchung der Abberufung Leppers vom Amt des Sejm-Marschalls), die Anerkennung der Verschuldung der Landwirtschaft in den Jahren 1989-1998 auf Grund der veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten, den Schutz von polnischem Grund und Boden sowie die Abberufung des Chefs der Polnischen Nationalbank Leszek Balcerowicz.

Die Losungen werden in Gesetzesvorlagen oder Gesetze umgeschmiedet, die gewöhnlich für die weitere Gesetzgebungsarbeit ungeeignet sind. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, zu beweisen, dass die Partei bemüht ist, die Versprechungen umzusetzen, nur andere machen es ihr ständig schwer.

Konsequente Liga

Auch die Liga Polnischer Familien hat das Jahr seit den Parlamentswahlen nicht untätig vergehen lassen. Erstens bekam sie einen echten Vorsitzenden, der sich wesentlich besser präsentiert als Lepper. Roman Giertych hat die, die ihn störten, aufs Abstellgleis gestellt. (...) Außerdem war Giertych in dem Jahr tatsächlich aktiv. Er tauchte überall dort auf, wo er gegen die Europäische Union auftreten konnte, er sprach von der Sejmtribüne und in den Medien. Für eine besondere Überraschung sorgte er, als er - einer von wenigen Politikern - auf dem Anwaltskongress auftauchte, um die Teilnehmer zu überzeugen, wie sehr die polnischen Anwaltskanzleien von ausländischen bedroht sind. Die begeisterten Juristen applaudierten und waren nicht geneigt, den wenigen, die noch bei Sinnen waren und die zu erklären versuchten, dass der Herr Abgeordnete Giertych die Wahrheit zu umgehen versucht, Gehör zu schenken.

Es hat den Anschein, als sei er heute auf ein besonders herzliches Verhältnis zu Pater Rydzyk, dessen Aufruf "Hallelujah und vorwärts" alle radikalen Bewegungen zu beschützen scheint, gar nicht mehr angewiesen. Roman Giertych hat es zweifellos geschafft, selbständig zu werden, und dass er einige Abgeordnete verloren hat, ist ohne Bedeutung. Diejenigen, die weggehen, katapultieren sich selbst ins Abseits. Giertych ist jedenfalls in einer wesentlich besseren Situation als Lepper, dem es nicht gelang, Wojciech Mojzesowicz aus dem parlamentarischen Club der Partei zu entfernen. Es zeigte sich, dass der Führer gar nicht so stark ist und sich nicht alles erlauben kann.

Die Liga machte sich kein Kopfzerbrechen über Gesetzesinitiativen, sie setzte auf die einfachsten und wirksamsten Maßnahmen. Die Liste ihrer parlamentarischen Aktivitäten besteht aus Beschlussvorschlägen und Vorschlägen zur Änderung der Tagesordnung (hier hält sie einen echten Rekord). Die Gesetzesvorschläge der LPR betrafen unter anderem die Abberufung des Sejmmarschalls, die Gründung von Ermittlungsausschüssen (Untersuchung der Korruption im Justizwesen, des Getreideimports nach Polen, der Privatisierungsabkommen, den Verkauf der Stettiner Werft) sowie die Direktübertragung der Sejmsitzungen. Die Krönung war in der Tat die bürgerliche Initiative bezüglich eines Referendums über den Verkauf von Grund und Boden an Ausländer. (...)

Die Liga ließ sich Gelegenheiten wie personelle Veränderungen im Justizwesen oder in den Sonderdiensten, die Lage in der Werftindustrie, im Hüttenwesen und allen anderen Industriezweigen, die sich in Schwierigkeiten befinden, nicht entgehen. Es fehlte auch nicht der Punkt Ausgaben für EU-Experten. Innerhalb eines Jahres kamen über zwanzig solcher explosiver Themen zusammen, die der LPR einen politischen Nutzen bringen und die beweisen könnten, dass die Gruppierung in der Tat die Rolle der Opposition übernommen hat, die die Regierung hauptsächlich in all den Dingen kontrolliert, die mit der EU-Integration und dem Verkauf des polnischen nationalen Vermögens zu tun haben. Die LPR hat diese Richtung genau für sich umrissen und sie mit geradezu eiserner Konsequenz verfolgt. Bei den Wählern hat die Liga für ihre Klarheit und Eindeutigkeit ihrer Kommuniqués tatsächlich eine Prämie verdient.

Wem die Stunde schlägt

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen haben einen Teil der Politiker bezaubert. Wenn die Radikalen so an Macht gewonnen haben, dann bedeutet das, dass sie weiter an Stärke zunehmen werden, denn schließlich stehen ja schlechtere Zeiten bevor. Das brachte am deutlichsten Jaroslaw Kaczynski zum Ausdruck.

Das Rezept gegen gesellschaftlichen Radikalismus soll Parteien-Radikalismus sein. Kaczynski kündigt deutlich an, seine Partei in diese Richtung zu lenken, obwohl es schwierig wäre, "Recht und Gerechtigkeit" schon jetzt das Etikett einer gemäßigten Rechten anzuheften. Die Rhetorik dieser Gruppierung war stets sehr radikal, und was die europäische Integration betrifft, so äußerte sie sich eher kurz und bündig. Die Versuchung eines solchen Radikalismus könnte auch innerhalb der SLD auftauchen. Die frustrierten Mitglieder, von denen gegenwärtig recht viele aus dem Blickfeld verschwinden, könnten anfangen, von der Regierung eine Jagd auf die Selbstverteidigung zu fordern (womit die Polnische Bauernpartei bereits begonnen hat).

Es ist aber gar nicht so sicher, ob der Wähler tatsächlich Radikalismus erwartet, ob die Politiker die Stimmungen in der Gesellschaft richtig bewerten. Wir bewegen uns nämlich in einer Materie, die soziologisch sehr schlecht erforscht ist. Die Untersuchungen, die durchgeführt worden sind, zeigten, dass die Wähler der Selbstverteidigung deutlich in der politischen Mitte angesiedelt sind und den SLD-Wählern sehr nahe sind, obwohl unter den Anhängern der Selbstverteidigung die Zahl der Integrationsgegner beträchtlich zugenommen hat (...). Dieselbe Umfrage zeigte, dass unter den LPR-Wählern 44 Prozent für die Integration in die Europäische Union sind. (...)

Sie schreien, beschuldigen, fordern

Der polnische Radikale ähnelt allen anderen politischen Radikalen: Jörg Haider in Österreich, Carl Hagen in Norwegen, Jean-Marie Le Pen in Frankreich oder Vladimir Meciar in der Slowakei. Radikalismus ist laut, kompromisslos, er fordert keine Korrekturen, sondern "grundsätzliche Veränderungen" im gesellschaftlichen Leben und in der Politik, ohne von der angenommenen Doktrin abzuweichen. (...)

Der polnische Radikalismus - gemein sind ihm der Populismus, die Demagogie und die EU-feindliche Haltung - ist ein wenig anders. Es ist ein Radikalismus mit einem stärkeren "nationalen" und antikommunistischen Akzent (LPR), der sich sehr deutlich auf die Traditionen des polnischen Nationalismus beruft und der sowohl in Roman Dmowski als auch in Pater Rydzyk Schirmherren sucht. Es gibt den Radikalismus der Selbstverteidigung mit einem stärkeren "sozialen" Akzent (...), mit Edward Gierek als positivem Helden und mit negativen Helden, die "verschwendet, gestohlen und zugrundegerichtet" haben, das heißt allen, die an der Regierung der 3. Republik Polen in irgendeiner Weise beteiligt waren. Es gibt auch noch den verstreuten und labilen Radikalismus, der zwischen verschiedenen Parteien und Hoffnungen hin und her wandert. Bei den vorhergegangenen Wahlen war es die SLD, die gern ihr radikales Antlitz zeigte, wenn sie die Regierung Jerzy Buzek attackierte.

Und schließlich gibt es den Radikalismus der Brüder Kaczynski. "Recht und Gerechtigkeit" vertritt einige Ideen wie den Kampf um Sicherheit, Kampf gegen Korruption und jetzt den aktiven Euroskeptizismus, an dem es übrigens in dieser Partei nie gefehlt hat. (TS)