Antikriegsprotest im russischen TV
15. März 2022Sie wurde in wenigen Minuten zum Medienstar: Marina Owsjannikowa, 42 Jahre alt, Redakteurin beim staatlichen russischen Fernsehsender "Erster Kanal". Am Montagabend sprengte sie die Nachrichtensendung zur Prime Time, als sie sich vor laufender Kamera hinter die prominente russische Moderatorin Ekaterina Andrejewa stellte und ein handgeschriebenen Plakat hochhielt auf dem auf Englisch und Russisch stand: "No War. Stoppt den Krieg. Glaubt nicht an Propaganda. Sie werden hier betrogen. Russen gegen den Krieg".
Der Auftritt einer bisher kaum bekannten Journalistin dauerte wenige Sekunden und löste vor allem im Westen ein mediales Erdbeben aus. Ausschnitte der Sendung wurden auf diversen YouTube-Kanälen innerhalb weniger Stunden hunderttausende Male aufgerufen.
Auch Nachrichtensendungen haben mit diesem Thema aufgemacht. Der Hintergrund: Es war das erste Mal - nicht nur seit dem offenen Überfall Russlands auf die Ukraine, sondern seit Jahrzehnten - dass in streng staatlich kontrollierten russischen Medien ein Protest gegen den Kreml auf diese Weise sichtbar gemacht wurde. Viele haben das bis dahin für unmöglich gehalten.
Geldstrafe von 30.000 Rubel
Die 1978 offenbar in der südukrainischen Hafenstadt Odessa geborene Owsjannikowa hatte auch eine Videobotschaft veröffentlicht, in der sie über ihren ukrainischen Vater spricht, sich für die Verbreitung von Propaganda schämt und zu Protesten aufruft. "Ich schäme mich jetzt", sagt sie in die dem Video.
Am Hals trägt sie eine blau-gelbe Kette in den Farben der ukrainischen Flagge. Nach Berichten russischer Medien hat Owsjannikowa Journalistik im südrussischen Krasnodar studiert, sie soll Mutter zweier Kinder sein und ihr Ex-Ehemann soll beim russischen Auslandsfernsehsender Russia Today (RT) arbeiten.
Owsjannikowa soll noch am Montagabend festgenommen worden sein, am Dienstag musste sich sich dann wegen der "Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion" vor Gericht verantworten. Ein Gericht im Moskau hat sie am Dienstagabend zu einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 230 Euro verurteilt und vorerst auf freien Fuß gesetzt.
Sie wurde zunächst nicht nach dem neuen russischen Mediengesetz angeklagt, das bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von "Falschnachrichten" über das Militär vorsieht. Ihr Anwalt Daniil Berman hatte eine Anklage auf Grundlage des neuen Mediengesetzes befürchtet, wie er der Nachrichtenagentur AFP sagte. "Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Behörden daran ein Exempel statuieren, um andere Protestierende zum Schweigen zu bringen." Er beklagte zudem, dass er zu seiner Mandantin keinen Zugang habe und nicht wisse, wo genau sie festgehalten wurde.
Das russische Parlament hatte vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von "Falschnachrichten" über das Militär vorsieht. Damit wurde auch die Bezeichnung des russischen Militäreinsatzes in der Ukraine als "Krieg" unter Strafe gestellt.
Applaus von der russischen Opposition
Unter den russischen Oppositionellen, die jetzt meistens im Exil leben, löste Owsjannikowa mit ihrer Tat Jubel aus. "Propagandisten prangern Putin an", twitterte Kira Jarmysch, Pressesprecherin des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny.
"Die Tat einer einzigen Frau soll ein Anfang werden, ein Vorbild für uns alle", schrieb bei Facebook der ehemalige Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow. Der Journalist des inzwischen in Russland gesperrten Fernsehsenders "Doschd" (Regen), Timofej Dsjadko, verglich Owsjannikowa mit denen sieben Protestlern, die 1968 auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei demonstriert hatten.
Gemischte Reaktionen in der Ukraine
In der Ukraine fallen die Reaktionen auf Owsjannikowas Tat gemischt aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj bedankte sich in seinem Telegram-Kanal bei der russischen Journalistin.
"Ich danke jenen Russen, die nicht aufhören zu versuchen, die Wahrheit zu verbreiten… Besonders jener jungen Frau, die das Studio des "Ersten Kanals" mit einem Antikriegsplakat betrat."
In sozialen Netzwerken jedoch gibt es viele Zweifler an der Ehrlichkeit der Russin. "Wie ist es, jahrelang Krieg anzufeuern und dann plötzlich aufzuwachen"? fragt bei Facebook die ukrainische Nichtregierungsorganisation "Institut für Massenmedien" (IMI).
"Das, was ich gesehen habe, entspricht nicht dem Gesagten. Die Person spricht über ihre Eltern und Schamgefühle, so als würde sie Nachrichten sprechen - keine Emotionen!!!" schrieb eine Userin über ihre Skepsis.
Eine verbreitete Sichtweise: Es könnte keine Livesendung gewesen sein, der Auftritt sei ein Versuch des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, die weltweite Aufmerksamkeit von Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine abzulenken. Überprüfen lässt sich diese These kaum. Das Beispiel zeigt jedoch, wie groß das Misstrauen gegenüber Russland in der Ukraine geworden ist.