Russlands TV-Krieg gegen die Ukraine
14. Februar 2022Wollen die Bürger Russlands einen Krieg gegen die Ukraine? Es ist eine Frage, die seit dem Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze im Raum steht. Und es ist eine Frage, die für Denis Wolkow spürbar heikel ist. Er denkt kurz nach, bevor er antwortet. "So haben wir nicht gefragt", sagt der Meinungsforscher des renommierten Lewada-Zentrums in Moskau im DW-Gespräch. "Das ist eine marginale Haltung. Vielleicht könnte jemand so denken, aber es sind ganz wenige, die das wirklich wollen und dazu aufrufen."
Umfrage: 40 Prozent halten Krieg für möglich
In russischen Medien ist das Thema dagegen kein Tabu - im Gegenteil. Der schillernde Rechtspopulist und Abgeordnete Wladimir Schirinowski, gern gesehener Gast politischer Talkshows, sinniert seit Jahren öffentlich über einen Angriff auf die Ukraine. Zuletzt plädierte er Ende Dezember in einem Zeitungsinterview für den Einsatz "militärischer Stärke", sollte die Ukraine nicht auf russische Forderungen wie den Verzicht auf einen NATO-Beitritt eingehen. Vor ein paar Jahren phantasierte Schirinowski in einer Sendung des staatlichen Kanals "Rossija-1" über eine Atombombe auf den Amtssitz des damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Kiew. Auch in sozialen Medien gibt es martialische Gedankenspiele. “Es wird Zeit, die Ukraine erneut zu befreien”, twitterte beispielsweise unlängst ein russischer Journalist.
Wie verbreitet solche Stimmungen in der russischen Gesellschaft sind, ist unklar. Nicht alle der rund 7,5 Prozent der Wähler, die bei der Dumawahl im September 2021 für die Schirinowski-Partei LDPR gestimmt haben, würden einen Krieg gegen die Ukraine begrüßen.
Denis Wolkow kennt andere Zahlen, die ihn nachdenklich machen. 36 Prozent der Russen halten es für "durchaus wahrscheinlich", dass aktuelle Spannungen zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnten. Weitere vier Prozent halten einen solchen Krieg gar für "unausweichlich", ergaben Umfragen des Lewada-Zentrums Ende 2021. "Das ist mehr als sonst, diese Zahl ist gewachsen", sagt Wolkow. "Die meisten wollen keinen Krieg, haben Angst davor, doch es gibt das Gefühl, dass er nah ist", so der Meinungsforscher. Dabei werde die Verantwortung beim Westen gesehen: Sollte es zu einem Krieg mit der Ukraine kommen, würde jeder zweite Russe die USA und NATO-Länder dafür verantwortlich machen. Bei der Ukraine würden 16 Prozent die Schuld sehen. Russland dagegen wäre nur für vier Prozent ein Kriegstreiber.
Ukraine als Dauerthema in russischen Medien
Diese Meinungen spiegeln das Bild, das seit Jahren in russischen Medien und vor allem im staatlichen Fernsehen verbreitet wird. "Das Thema (Ukraine und möglicher Krieg – Anm.d.Red.) erreicht die Bürger übers Fernsehen, das für zwei Drittel der Russen die wichtigste Informationsquelle ist", sagt Wolkow.
Im russischen Fernsehen ist die Ukraine seit Jahren ein Dauerthema. Die intensive Berichterstattung begann nach dem Sieg der "Revolution in Orange" im Jahr 2004, die vom Kreml als ein vom Westen inspirierter Staatsstreich wahrgenommen wird. Bis dahin galten die Ukraine und Ukrainer noch als "strategischer Partner" und "Brudervolk". Der Krieg Russlands gegen Georgien 2008, bei dem die Ukraine Tiflis unterstützt hatte, war eine weitere Zäsur. Kurze Zeit danach kam die Idee eines Krieges in der Ukraine in den russischen, aber auch in den ukrainischen medialen Raum. Es erschienen mehrere Sachbücher, die einen "Untergang des Projekts Ukraine" prophezeiten. Damals schien es ein Werk von Spinnern.
Schutz der "Russen" in der Ostukraine
Im Vorfeld der Krim-Annexion 2014 war die Ukraine in Russland Thema auf allen Kanälen. Wie 2004 wurden oppositionelle Proteste als Staatsstreich dargestellt. Im Vordergrund standen zunehmend Berichte über eine angebliche Gefahr für russischsprachige Ukrainer. Diese Gefahr war stark übertrieben, es gab weder Angriffe noch ernste Drohungen. Für den Präsidenten Wladimir Putin war das jedoch ein Grund für die Annexion. Er habe Russen schützen wollen, sagte der Kreml-Chef danach.
Seitdem ist die Ukraine-Berichterstattung gleich nach der russischen Innenpolitik eines der zentralen Themen. Viele Beobachter in Russland, aber auch im Ausland rätselten über die Hintergründe dieser Entwicklung. Im Nachhinein wirkt es wie ein Versuch, die öffentliche Meinung für den Fall eines Konflikts im Stand-by-Modus zu halten.
Wichtiger Bestandteil vieler Talkshows sind ukrainische "Experten", die als "Idioten" beschimpft und beleidigt werden. Die Kernthesen ändern sich seit Jahren nicht: Die Ukraine sei ein schwacher, gescheiterter Staat, in dem ukrainische "Nazis" die Agenda bestimmen, eine Marionette des Westens und ein Feind Russlands. Das Ergebnis: eine Ukraine-Müdigkeit, die Meinungsforscher wie Denis Wolkow feststellen. Aber auch das: Auf der Liste der Russland gegenüber unfreundlichen Staaten belegt die Ukraine in Umfragen den zweiten Platz hinter USA und vor Großbritannien.
In der aktuellen Krise wird in russischen Medien der Ruf nach einem Schutz der "Russen" in der Ukraine wieder wahrnehmbar. Gemeint sind russischsprachige Ukrainer im Süden und Osten des Landes und vor allem Bewohner der Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk. Hunderttausende von ihnen wurden seit 2019 in Russland eingebürgert. Präsident Putin sprach Ende Dezember zum ersten Mal von Anzeichen eines "Völkermords" in der Ostukraine. Die Separatisten haben bereits angekündigt, Russland eventuell um militärische Hilfe bitten zu wollen. Es wäre eine Entwicklung, die in russischen Medien auf fruchtbaren Boden fallen würde.