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Zukunftsfragen mit Sprengstoff

Alexander Kudascheff8. Oktober 2003

Zwar hat die Debatte über die europäische Verfassung auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs erst begonnen, aber die Unruhe im politischen Brüssel wächst bereits: Wie wird der große Schlagabtausch ausgehen?

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Wer wird sich durchsetzen? Wird ein großer Verfassungsentwurf zum Schluss zerredet werden? Werden sich nationale Interessen über europäische Optionen hinwegsetzen? Die Antworten lassen sich zurzeit bestenfalls erahnen. Aber die Sprengkraft der Diskussionen, der Debatten ist allen bewusst.

Natürlich gibt es am Anfang einer so wichtigen Regierungskonferenz auch Standortgeplänkel. Natürlich gibt es auch Provokationen, um den eigenen Standpunkt besser vertreten zu können - und sei es vor dem eigenem Publikum. Doch jenseits dieser eher taktischen Erwägungen: in den nächsten Monaten geht es in der europäischen Union um die Kernfragen der Zukunft. Denn die vier Hauptstreitpunkte sind auch Wegmarken der europäischen Zukunft.

Zuerst die Frage nach dem Gottesbezug in der Verfassung: sie gibt Aufschluss über die Werte der Europäer, über das Christentum ebenso wie über die Aufklärung, die Trennung von Staat und Religion.

Wanderzirkus verhindert Kontinuität

Dann die Frage nach der Stimmengewichtung im Rat, also bei den Treffen der Minister oder der Staats- und Regierungschefs. Hier soll das komplizierte Verfahren, das auf dem Gipfel in Nizza beschlossen wurde, abgelöst werden durch ein einfaches und schlagendes Verfahren: es sieht bei Abstimmungen eine Mehrheit der Länder und eine mindestens 60-prozentige Mehrheit der Bürger vor. Das entspricht zwei Vorstellungen gleichzeitig: die Länder sind - ob groß oder klein - erst einmal alle gleichwertig. Und: Die demokratische Legitimation von Entscheidungen hängt auch davon ab, dass die Mehrheit der Europäer dahinter stehen.

So weit so einfach und so klar. Doch Spanien und Polen, zwei Mittelmächte, wollen überproportional Stimmen bekommen. Das entspricht ihrem nationalen Selbstbewusstsein im europäischen Konzert. Das aber ist wie Sprengstoff für den Zusammenhalt.

Das dritte: der Ratsvorsitz. Bis jetzt herrscht alle sechs Monate Wanderzirkus in Europa. Mal haben die Griechen, mal die Iren, mal die Spanier, mal die Deutschen das Sagen. Ein ständiges Durcheinander ist die Folge. Sachliche Kontinuität eher selten. Und bei 25 Mitgliedern wird jedes Land in der Zukunft nur alle zwölfeinhalb Jahre dran sein. Ein Unding. Das will die Verfassung ändern: ein Ratspräsident soll zweieinhalb bis fünf Jahre lang für personelle und organisatorische Kontinuität sorgen. Doch, so wittern die Kleinen, hier wollen die Großen dafür sorgen, daß ihre Interessen gewahrt bleiben.

Zusammenschlüsse innerhalb der EU?

Schließlich die Frage: soll jedes Land einen Kommissar in die eigentlich nur europäisch ausgerichtete Kommission senden? Für 19 von 25 Ländern ist die Antwort klar: Ja. Andere sehen mit Grausen, daß keinerlei effiziente Arbeit in der Kommission der Zukunft mehr möglich sein wird.

Soweit die umstrittenen Themen. Doch am Stil der Diskussion, an der Attitüde mancher Länder kann man zur Zeit mehr erkennen. Es geht um die Grundrichtung der EU. Soll die Europäische Union weiter zusammenwachsen? Sollen die Nationalstaaten souveräne Rechte an Brüssel abtreten? Wird demnächst von einem Außenminister europäische Außenpolitik weltweit vertreten - und haben Berlin, Warschau, London, Paris, Madrid nichts mehr zu sagen? Wird es gar Mitgliedsländer geben, die sich zusammenschließen dürfen, um enger zusammenarbeiten als die anderen es wollen? Auch das wäre ja Sprengstoff. Oder wird aus der EU ein Binnenmarkt und eine Freihandelszone, in der alle Länder ständig für sich Ausnahmeregeln in Anspruch nehmen, wie jetzt schon die Dänen oder die Iren?

In Brüssel spürt man nun, auf dem Weg zu einer EU der 25 wird ernsthaft über das Wesen und die Zukunft der EU nachgedacht. Das stereotype "Immer-Weiter-So" hat ausgedient. Und deswegen, weil niemand weiß, wie die Debatten enden werden, ist Brüssel nervös, nervöser als sonst.