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Verlorene Kindheit

Regina Brinkmann29. Januar 2008

Ein Viertel der Deutschen waren im Zweiten Weltkrieg Kinder. In den 50er Jahren waren Forscher noch überzeugt, die Generation habe die Kriegserlebnisse gut verkraftet. Ein Trugschluss, wie neuere Untersuchungen zeigen.

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Alte Aufnahem von Kindern,die über einen Feldweh laufen (Quelle: dpa)
Traumatisierte Kinder: Über 60 Jahre nach Kriegsende kommen die traumatischen Erlebnisse von einst wieder hochBild: dpa - Bildarchiv

Wenn Hildegard Jost-Berns eine Sirene hört, zuckt sie regelmäßig zusammen. Als die 69-Jährige noch als Lehrerin arbeitete, musste sie sogar den Unterricht unterbrechen, wenn draußen Probealarm ertönte. Mit fünf Jahren hatte sie erlebt wie die elterliche Wohnung nach einem Luftangriff auf Essen in Flammen aufging. Sie war zu klein, um zu verstehen, warum das passierte und zu groß, um es jemals zu vergessen. Diese Flammen haben sie noch Jahre später in ihren Träumen heimgesucht.

Der Verlust von Heimat und Sicherheit geht einher mit dem Verlust der eigenen Kindheit. Auch für Beatrix Wagner, als sie 1945 den Angriff auf Dresden erlebt. Sie kann sich an das Krachen der Bomben erinnern und an die erschreckende Ohnmacht ihrer Mutter: "Das war etwas völlig Unerwartetes und es war so ein Gefühl von etwas ganz Schlimmem."

Mit traumatischen Erlebnissen allein gelassen

Doch die verletzte Gefühlswelt der siebenjährigen Beatrix Wagner interessierte in den chaotischen Kriegstagen niemand. Es ging vielmehr um das nackte Überleben. Auch in der Nachkriegszeit bot sich keine Gelegenheit, das Erlebte aufzuarbeiten. Psychologen, die sich um traumatisierte Kriegskinder kümmerten, gab es nicht. Eventuelle Sorgen um die seelische und körperliche Unversehrtheit dieser Kinder und Jugendlichen wurden durch eine Studie im Jahr 1954 zerstreut. "Sie hatten wieder normales Gewicht, normales Längenwachstum, normale Schulleistung, keine schweren nach den damaligen Methoden erforschbaren psychischen Veränderungen", erklärt Professor Hartmut Radebold.

Porträt eines Mannes (Quelle: DW/Regina Brinkmann)
Altersforscher RadeboldBild: DW/Regina Brinkmann

Der Psychiater aus Kassel beschäftigt sich seit Jahren in seiner therapeutischen und wissenschaftlichen Arbeit mit der Generation der Kriegskinder. Dabei stieß er bei den über 60-Jährigen immer wieder auf Symptome und Verhaltensweisen, die er den nicht verarbeiteten Kriegserlebnissen im Kindesalter zuordnete. Auffällig waren zum Beispiel Beziehungsstörungen. So haben Frauen dieser Generation später Probleme, sich auf einen Partner einzulassen. Denn jahrelang wurden sie oft allein von Müttern und Großmüttern erzogen. Die Väter waren gefallen, galten als vermisst oder kehrten erst spät aus der Kriegsgefangenschaft heim.

Was nicht umbringt, macht uns hart

Nicht nur in der Partnerschaft holt die Kriegskinder von einst die eigene Vergangenheit ein. Mal ist es die Sirene, mal die bedrückende Enge während einer Untersuchung im Kernspintomographen, die Bilder und Schrecken aus der Kindheit zurück ins Bewusstsein holen können. Ein Prozess, den manche nur schwer zulassen können, so Professor Hartmut Radebold. "Viele Männer und Frauen haben ja das Selbstbild: Toll, ich hab das alles überlebt und geschafft. Sie leben nach dem Spruch: Was uns nicht umbringt, macht uns hart."

So wurden ihre Erinnerungen eingemauert, ruhten am Boden des erwachsenen Unterbewusstseins inmitten des beruflichen und familiären Alltags. Mit dem Eintritt ins Rentenalter werden diese Erinnerungen dann wieder hochgespült. Ohne Ablenkung durch berufliche Hektik und Betriebsamkeit fallen die Kriegskinder von einst auf sich selbst und ihre Vergangenheit zurück. Depressionen, Panikattacken und körperliche Beschwerden wie Herzschmerzen können die Folgen sein. Beschwerden, denen aber nicht immer auf den Grund gegangen wird. Denn in Zeiten von Hunger und Kälte haben sie als Kinder beispielsweise gelernt, Signale ihres Körpers zu ignorieren.

Das tun sie bisweilen heute noch. So meiden Menschen dieser Generation überdurchschnittlich oft Vorsorgeuntersuchungen. Sie kurieren Krankheiten nicht aus. Auch die Wahrnehmung für das eigene Seelenleben, die Trauer, ist bisweilen getrübt. So hielt Hildegard Jost-Bens viele Jahre ein Kinderfoto von sich für besonders schön. Auf dem Bild blickt sie als Achtjährige mit Schleifchen und Schillerlocken in die Kamera. Inzwischen sieht sie das Foto mit anderen Augen. Sie hat gemerkt wie ernst und angespannt ihr Kindergesicht in Wirklichkeit aussieht, "obwohl doch 1946 das Schlimmste vorbei war. Zumindest äußerlich."